Ruf Des Dschungels
weitere Hütten entdeckten, die von dichten Büschen und Bäumen völlig zugewuchert waren.
Ich fühlte mich ein wenig bedrückt, als wir das Dorf wieder erreichten. In den letzten Tagen waren so viele Erinnerungen lebendig geworden, so viele Emotionen bei all diesen Begegnungen mit längst Vergangenem hochgekommen. Und während die Tage in ihrem ewig gleichen Rhythmus dahingingen, glomm ein wachsender Funke Angst in mir auf, die Furcht, was wohl auf mich wartete, wenn ich in die westliche Welt zurückkehren musste.
Ich war in der Hoffnung hierher gekommen, mit der Vergangenheit abschließen zu können, um die Heimatlosigkeit zu vertreiben, die mich seit Jahren überallhin begleitete, diese Rastlosigkeit ohne Zweck und Ziel. Ich dachte, wenn ich all das hier wiedergesehen hätte, dann würde ich zufrieden sein und mich endlich in die Welt eingliedern können, in der ich seit nunmehr fünfzehn Jahren lebte. Stattdessen hatte ich mich bei meiner Rückkehr wie ein fehlendes Puzzleteil in die Welt hier in West-Papua eingegliedert – und alles passte perfekt zusammen. Jede Rundung, jede Krümmung, jede Gerade hatte sich sanft an ihren Platz gefügt. Nein, ich wollte noch nicht darüber nachsinnen, wollte mir gar nicht ausdenken, was noch alles vor mir lag. Ich schob die Gedanken beiseite und verbrachte den Rest des Tages wie alle anderen: indem ich nichts tat.
Am nächsten Morgen weckte mich Fusai ungewohnt früh. »Beeil dich, Klausu will dir etwas zeigen!«
»Was denn?«, fragte ich.
»Das neue Fayu-Dorf«, sagte Fusai stolz.
Papa hatte mir vor ein paar Tagen erzählt, dass es ganz verborgen in einem Seitenfluss, mitten in einem gefährlichen Sumpfgebiet lag. »Ein gutes Versteck vor allen Gefahren«, hatten die Fayu ihm erklärt, als sie dort hinzogen.
Welche Gefahren?,
dachte ich spontan. Ich wusste ja inzwischen, dass es Ärger mit dem Stamm der Dou gegeben hatte, aber nie hätten sie es gewagt, so tief ins Stammesgebiet der Fayu vorzudringen.
Ich zog mir schnell ein T-Shirt über, das ich schon seit zwei Tagen trug, und schlüpfte in meine Jeans, die nach getrocknetem Fleisch und Rauch rochen. So ging ich zu Papas Haus hinüber, um dort meinen Instantkaffee zu trinken.
Es ist lustig: In Europa achte ich sehr auf Sauberkeit. Doch bei den Fayu machte mir meine schmutzige Umgebung gar nichts aus. Hier fühlte sich alles irgendwie rein und auf natürliche Weise sauber an, auch wenn ich meine Kleider mehrere Tage hintereinander trug und nur noch äußerst selten duschte. Zu Hause dagegen kommt es mir vor, als sei ich immer und überall von aggressiven Bakterien und verschmutzter Luft umgeben.
Nach einer Tasse Kaffee gingen wir zum Fluss hinunter. Die übliche Gruppe begleitete uns, und alle lachten und riefen aufgeregt durcheinander, während wir uns in das sofort überfüllte Boot quetschten. Bald waren wir unterwegs und glitten mit der starken Strömung dahin, der Motor dröhnte laut in der frischen Morgenluft.
Nach einer Weile bogen wir links in einen kaum sichtbaren Nebenarm des Flusses ab. Zuerst war er so eng, dass wir fast das Ufer zu beiden Seiten berühren konnten, doch dann öffnete er sich zu einem breiten Wasserlauf mit nur sehr schwacher Strömung.
Dihida
Hier kann man sicher wunderbar angeln,
dachte ich, während ich die paradiesische Natur an mir vorüberziehen ließ. Nakire saß ganz vorn im Boot und dirigierte das Kanu um die dicken Äste und Baumstämme herum, die sich unter der Wasseroberfläche verkeilt hatten. Für die Regenzeit war der Wasserstand erstaunlich niedrig, und irgendwann saßen wir tatsächlich fest und mussten aussteigen. Ein riesiger Baumstamm lag quer im Wasser. Einige junge Männer machten sich daran, mit ihren Äxten den Weg freizuschlagen, und eine halbe Stunde später senkte sich der Baum endlich um wenige Zentimeter, so dass unser Boot darüber hinweggleiten konnte.
Unter lautem Siegesgeheul kletterten wir zurück ins Kanu und setzten unsere Fahrt fort. Bald schon paddelten uns mehrere Kanus voller Fayu entgegen, das Begrüßungskomitee. Kurz darauf kam die erste Hütte in Sicht.
Die Fayu bauen ihre Hütten heute noch genauso wie schon vor Generationen: vier Pfähle, eine Plattform und ein Dach aus Palmwedeln. Mir fiel auf, dass immerhin einige der Behausungen jetzt Wände aus rauen, ungleichmäßig zugeschnittenen Brettern besaßen, aber grundsätzlich hatten die Fayu immer schon der Tradition den Vorzug vor Veränderungen gegeben. Das Konzept eines stabilen
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