Ruf Des Dschungels
Babu-Bosa, der etwa zehn Jahre alt gewesen sein dürfte, wachte von dem Tumult auf und fing vor Angst an zu weinen. Als er merkte, dass er nichts tun konnte, rannte er davon, sprang in ein Kanu und paddelte los, um Hilfe zu holen.
In der Zwischenzeit rang Kloru weiter mit der Schlange. Sie rollten auf der dünnen Plattform umher, und ein Kampf auf Leben und Tod begann. Endlich bekam Kloru sein Buschmesser zu fassen und hieb damit auf die Schlange ein. Doch auch nachdem er ihr den Schwanz abgehackt hatte, versuchte sie ihn noch zu töten, denn in dem riesigen Tier steckten ungeahnte Kräfte. Die beiden kämpften die ganze Nacht, und selbst als sie von der Plattform ins kalte Wasser stürzten, hörten sie nicht auf. Als immer mehr und mehr Stiche auf die Schlange niederprasselten, lockerte sie auf einmal ihre Umklammerung, und so plötzlich, wie das Gefecht zwischen den beiden begonnen hatte, so plötzlich hörte es auch wieder auf. Mit letzter Kraft kroch Kloru wieder auf die Plattform, sein Körper übersät mit Wunden und Prellungen. Bald traf Hilfe ein, doch die Erlebnisse der Nacht hatten Kloru einen tiefen Schock versetzt.
Die nächsten sechs Wochen blieb er immerzu in seiner Hütte, er sprach nicht und bewegte sich nicht. Seine Familie pflegte ihn, sie brachten ihm zu essen und zu trinken oder setzten sich stumm neben ihn. Und auch nachdem die Wunden abgeheilt waren, blieb er noch liegen und entzog sich jeder Tätigkeit und Verantwortung. Dann, eines Morgens, stand er auf – und ohne eine Spur von körperlichen oder seelischen Schäden machte er weiter wie vorher, als wäre nichts gewesen. Er lachte, redete und nahm sich auch wieder all der Arbeiten und der Verantwortung als Familienoberhaupt an.«
Kloru, der stets eine Kopfbedeckung trägt
Als ich in der Nacht im Bett lag, kehrten meine Gedanken zu dieser Geschichte zurück. Sie war wieder einmal ein gutes Beispiel dafür, wie die Fayu mit der Psyche umgehen, vor allem wenn es sich um dramatische oder tragische Erfahrungen handelt. Das zählt eindeutig zu ihren Stärken. Bis heute legen sie wenig Wert auf körperliche Heilung, dafür geben sie sehr viel auf die seelische. Kloru hätte deutlich früher von seinem Krankenlager aufstehen und zu seinem normalen Leben zurückkehren können. Doch seine Psyche war noch nicht wiederhergestellt, der innere Heilungsprozess dauerte länger als der der körperlichen Wunden.
Könnte dies der Grund dafür sein, warum es bei den Fayu keine bekannten Fälle von Depression, Schizophrenie oder anderen psychisch bedingten Krankheiten gibt? Während unserer Zeit dort hatten wir nur zwei Fälle von leichter geistiger Zurückgebliebenheit erlebt, und diese war bereits angeboren. Doch nie hatten wir von Problemen gehört, die von tragischen Ereignissen oder Schockerlebnissen herrührten. Und das bei all dem, was die Fayu in Kriegszeiten durchgemacht hatten. Kinder mussten zusehen, wie ihre Eltern getötet wurden, manchmal wurden sie sogar vor ihren Augen in Stücke gehackt, ein jeder war in ständiger Angst um sein Leben. Der Krieg war ihr täglicher Begleiter, und die Sterberate war so hoch, dass die durchschnittliche Lebenserwartung gerade mal zwischen dreißig und fünfunddreißig Jahren lag, die Sterberate unter Kindern betrug sogar über 70 Prozent.
Eine eitrige Augeninfektion, wie sie im Dschungel häufig vorkommt
Wenn man die Fayu jedoch heute betrachtet, wirken sie sehr zufrieden mit ihrem Leben; Spätfolgen sind nicht zu erkennen. Dies zählt zu den größten Unterschieden, die mir auffallen, wenn ich die beiden Welten vergleiche, die ich kennen gelernt habe: In Europa hat das physische Wohlbefinden einen hohen Stellenwert, überall gibt es Krankenhäuser, Notaufnahmen, eine Arztpraxis neben der anderen, Apotheken wie Sand am Meer. Dazu unzählige verschiedene Medikamente, mit denen man nahezu jede Krankheit heilen oder zumindest fast jeden körperlichen Schmerz lindern kann. Doch was ist mit dem seelischen Schmerz, mit dem wir konfrontiert werden? Was ist mit den Verletzungen oder tragischen Erlebnissen, mit denen die Menschen hierzulande umgehen müssen?
Wenn jemand bei uns zugibt, dass er in psychologischer Behandlung ist, sehen die anderen gleich auf ihn herab, als wäre das eine Schwäche. In der Welt der Fayu dagegen verhält es sich genau andersherum. Körperliche Bedürfnisse werden nahezu ignoriert, Krankheiten galten lange Zeit als Fluch, und niemand machte sich die Mühe, ein Heilmittel zu finden.
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