Ruf Des Dschungels
zu jener Zeit das Hissen der Flagge erlaubt gewesen war. Der Polizeichef, der an diesem Tag im Zeugenstand aussagte, war damals auf Herman zugegangen und hatte ihn gebeten, die Flagge wieder abzunehmen. Dieser tat wie geheißen und händigte die Fahne dem Polizisten widerstandslos aus. Nun wurde er Jahre später für einen Vorfall angeklagt, der damals durchaus rechtens gewesen war.
Herman wurde schließlich zu einem Jahr und vier Monaten Haft verurteilt. Am 29 . August 2002 wurde er entlassen.
Ich lernte Herman im Haus eines papuanischen Menschenrechtsanwalts kennen, der mehrere Opfer der Ereignisse von Wasior vertrat. Er war ein großer, attraktiver Mann, den ich auf Ende vierzig schätzte. Später sollte ich erfahren, dass er gerade mal siebenunddreißig Jahre alt war. Mir war sofort klar, dass er ein dringliches Anliegen hatte und es kaum erwarten konnte, mit mir zu sprechen. Doch erst am nächsten Tag sollte ich seine ganze Geschichte hören.
Wir saßen gemeinsam mit einem Übersetzer an einem schlichten Küchentisch.
Mit großer Aufrichtigkeit und Leidenschaft sprach Herman von der Liebe für seine Heimat, und mit Trauer sprach er von dem Schmerz und den Qualen, die er erlitten hatte. Er legte Zeugnis ab für all jene, die zu große Angst hatten, sich mit mir zu treffen. Er setzte sein Leben aufs Spiel und verbrachte mehrere Stunden damit, mir all das anzuvertrauen, was er bisher mit sich herumgetragen hatte.
Lange Jahre hatte er auf diesen Moment gewartet, darauf, dass seine Stimme endlich gehört würde. Er wollte nicht mehr im Verborgenen bleiben. Er zeigte mir die Narbe in seinem Nacken, die Wunden in seinem Gesicht, seine gebrochenen Hände und deformierten Füße.
Er weinte angesichts der Ungerechtigkeiten, die seinem Volk widerfahren waren, angesichts einer Regierung, die ihnen weder Schutz noch Entschädigung gewährte. Er trauerte um die Kinder, die ihre Eltern, um die Mütter, die ihre Söhne und Töchter, und um die Männer, die ihre Ehefrauen verloren hatten.
»Warum gibt es keine Gerechtigkeit auf dieser Welt? Warum hört niemand unsere Hilfeschreie? Nun will ich im Namen meines Volkes sprechen. Uns ist nie Gerechtigkeit widerfahren, dabei wollen wir nur eine faire Chance im Leben. Wir wollen doch nichts weiter als in Frieden leben!«
Ich stand neben Herman, als er sich spätabends auf seinem kleinen Moped auf die lange Heimreise machte, und ich spürte, wie Wut und Leidenschaft von mir Besitz ergriffen. Ich dachte über all die Dinge nach, die ich in den letzten Tagen gehört hatte, über die unwürdige Behandlung von Menschen, über den Wetteifer zwischen Polizei und Militär, die beide buchstäblich über Leichen gingen, um Wirtschaftsunternehmen zu kontrollieren und zu Geld zu kommen.
Die beiden Kräfte hatten Konflikte geschürt, anstatt die Menschen davor zu schützen, sie provozierten den Aufstand einer kleinen Bevölkerungsgruppe, die nur versuchte, sich einem System anzupassen, das sie wegstieß. Es gab einmal einen Slogan, der das anschaulich untermauert: »Jagt die Ratten, damit die Hühner ihre Eier legen können.«
Doch Herman ist keine Ratte, er ist ein wunderbarer Mensch, der selbst nach allem, was man ihm angetan hat, weder verbittert noch wütend ist. Verletzt durchaus und auch enttäuscht, aber jederzeit bereit, eine friedliche Lösung zu finden.
Wie hätte ich wohl an seiner Stelle reagiert? Hätte ich mir wie die drei Papua eine Waffe genommen, um selbst für Recht und Ordnung zu sorgen? Oder hätte ich geduldig auf meine Chance gewartet, der Welt meine Geschichte erzählen zu dürfen? Ich möchte über diese Frage lieber nicht nachdenken. Es ist nämlich gut möglich, dass ich mich für die Antwort schämen müsste.
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20 Ein trauriger Abschied
D er Tag unserer Abreise war gekommen. An diesem Morgen wachte ich traurig und niedergeschlagen auf. Es kam mir vor, als wäre ich mehrere Monate hier gewesen, die Stunden waren wie in Zeitlupe verstrichen, aus Tagen waren Wochen geworden, mein Geist und mein Körper hatten sich dem Tempo der Natur, die mich umgab, angepasst.
Es war noch früh, als ich anfing, meinen gelben Rucksack zu packen. Die meisten Kleidungsstücke, die ich dabei hatte, verteilte ich unter den jungen Fayu-Frauen. Ich musste mir ein Schmunzeln verkneifen, als ich Babu-Bosa einige Stunden später in meinen Khakihosen herumlaufen sah. Sie saßen ein bisschen eng, aber das störte ihn offenbar nicht. Er stolzierte durch die Gegend wie ein
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