Ruf Des Dschungels
beschloss Thelis, sich nach Wasior zurückzuschleichen. Er erreichte die Stadt, die eher verlassen als bewohnt wirkte: Die Straßen waren nahezu verwaist, die Häuser standen überwiegend leer, die Menschen waren alle in die umliegenden Berge geflohen.
Als Erstes suchte Thelis seine Töchter und ihre Familien auf. Seit Monaten hatte er nichts von ihnen gehört, weshalb er annahm, sie seien ebenfalls untergetaucht. Als er bei ihrem Haus ankam, war die Eingangstür offen. Er trat ein und befand sich plötzlich mitten in einem Alptraum: Auf dem Fußboden lagen die sterblichen Überreste seines 15 -jährigen Enkels, sie hatten ihm in den Kopf geschossen. Welchen Schmerz muss dieser Mann in jenem Moment empfunden haben, wie verzweifelt muss er gewesen sein, als er seinen ältesten Enkel da vor sich sah – abgeschlachtet wie ein Tier und zum Verwesen auf dem Fußboden liegen gelassen.
Der Schmerz loderte in seinem Blick, als er sich diese Szene im Gespräch mit mir in Erinnerung rief. Die Wörter blieben ihm im Halse stecken, und als er den Mund öffnete, kam zunächst kein Laut heraus. Wie es dem Rest der Familie ergangen war, hat er mir nie erzählt.
Nach einer Weile setzte Thelis seinen grausamen Bericht fort. Monate nach dem Vorfall fanden sie immer noch zerstückelte Skelette in den Häusern, bargen misshandelte Tote aus dem Meer, die in Plastiksäcken steckten. Unzählige Leichen waren ans Ufer geschwemmt worden. Ganze Familien irrten verzweifelt umher und hielten nach Lebenszeichen von verschollenen Angehörigen Ausschau. Ein Zeuge, der in einem der neuen Holzschlaggebiete arbeitete, schilderte ihm, dass man ihm befohlen habe, mit dem Bagger ein Massengrab auszuheben.
Niemand weiß genau, wie viele Menschen verschwunden sind oder ihr Leben gelassen haben. Denn die Bevölkerung wird bis heute unter Druck gesetzt und mit Vergeltungsmaßnahmen bedroht, sollte es jemand wagen zu sprechen. Aus Angst schweigen die Menschen, stumm versuchen sie zusammenzukratzen, was von ihrem Leben übrig geblieben ist. Die Zahl derer, die verschleppt, getötet und misshandelt wurden, schwankt zwischen mehreren Hundert bis zu mehreren Tausend.
Da er nicht wusste, wohin, suchte Thelis Häuptling Noak in seinem Versteck in den Bergen auf. Bei einer Versammlung der Stammesältesten wurde beschlossen, dass Thelis als Abgesandter der Stämme der Welt berichten sollte, was in seinem Land passierte.
Mit diesem neuen Auftrag kehrte Thelis nach Jayapura zurück und bemühte sich um eine Stelle in einer indonesischen Menschenrechtsorganisation namens Komnas Ham mit Sitz in Jakarta. Er wurde genommen, und seine erste Aufgabe bestand darin, einen Bericht über die Ereignisse von Wasior zu verfassen.
Kaum hatte er sein neues Amt inne, wurde er verhaftet. Komnas Ham sandte sofort einen hohen Funktionär, der so lange intervenierte, bis Thelis wieder auf freiem Fuß war.
Doch gleich nachdem der Mann abgereist war, begann die Polizei Thelis zu drohen.
Sie sagten ihm, er stehe auf ihrer Todesliste und sie würden ihn schon noch kriegen. Denn unter den Polizisten ging die Angst um, er könne tatsächlich berichten, was in Wasior vorgefallen war.
In einem beispiellosen Wettlauf gegen die Zeit machte Thelis sich auf die Suche nach Zeugen, Beweisen und Unterlagen. Je mehr er zusammensammelte, desto mehr terrorisierte ihn die Polizei. Im Juli 2004 sandte er das Ergebnis seiner Nachforschungen zum Obersten Gerichtshof nach Jakarta. Eine Antwort hat er nie erhalten.
Der Bericht, den Thelis gemeinsam mit mehreren Anwälten und Vertretern von Menschenrechtsorganisationen verfasst hat, beschreibt eindeutig einen Fall von Genozid. Die begangenen Verbrechen fallen selbst nach indonesischem Recht in diese Kategorie. Doch bisher wurde niemand verurteilt, weder Papua noch Angehörige der BRIMOB , und selbst die Täter, die in dem Bericht namentlich erwähnt sind, wurden weder vernommen noch verhaftet.
Bis zum heutigen Tag leben Häuptling Noak und zahlreiche andere Papua im Untergrund, sie ziehen von einem Haus zum anderen, von einer Provinz in die nächste. Ständig sind sie auf der Flucht, müssen Verhaftung und Tod fürchten.
Nach einem Jahr in Haft wurde Herman endlich angeklagt. Da man ihm weder eine Verwicklung in die Mordfälle noch in den Waffendiebstahl nachweisen konnte, lautete die Anklage schließlich auf Hissen der papuanischen Morgensternflagge, eine Aktion, die schon mehrere Jahre zurücklag.
Das überraschte Herman zutiefst, zumal
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