Ruf ins Jenseits
Ich floh blindlings in die Dunkelheit, wo ich schmerzhaft gegen eine Mauer prallte und gerade noch die Zeit hatte, mich halbwegs hinter einer staubigen Tapete zu verkriechen, ehe ein Lichtstrahl über den Boden fiel, über den geöffneten Sarg huschte und bei dem Stückchen Stoff, das zwischen den Platten der Rüstung steckte, verharrte.
Die Gestalt mit der Laterne trat in den Schein des Kerzenlichts und blieb direkt vor der Rüstung stehen. Kein Geist, sondern ein Mann, ein großer Mann in einem langen Mantel.
«Miss Langton?», sagte eine tiefe, gebieterische Stimme. «Ich bin Doktor Davenant. Ich bin gekommen, um Sie zu retten.»
Wenn ich ihn nicht dem Sarg hätte entsteigen hören, dann hätte ich ihm vermutlich geglaubt.
«Miss Langton», wiederholte die Stimme. «Kommen Sie heraus, Sie haben nichts zu fürchten.»
Etwas an seiner Stimme klang verändert. Sie hatte ihre leichte Heiserkeit verloren, an die ich mich von den wenigen Malen, die ich ihn hatte sprechen hören, erinnerte. Und warum dachte er, ich brauchte einen Retter, wenn er nicht schon Edwins Schicksal kannte?
Eine behandschuhte Hand wurde ausgestreckt und griff nach dem Heft des Schwertes. Weißes Licht strahlte aus der Rüstung, und für einen Augenblick standen sich die zwei leuchtenden Figuren einander umklammernd gegenüber. Dann neigte sich die Rüstung nach vorne, umfing den Mann und stürzte kopfüber durch den Boden.
Zusammen mit einem ohrenbetäubenden Krachen kehrte wieder Dunkelheit ein. Der Boden schwankte, einen Moment lang war es still, dann hörte ich ein langes, tiefes Grollen, das sich näherte und dabei an Kraft gewann und sich schließlich mit einem donnernden Tosen über mir brach. Erstickender Staub füllte meine Lungen, ich fiel und wurde herumgeschleudert wie eine Stoffpuppe im Sturm.
∗∗∗
Ich hatte einen abscheulichen Geschmack im Mund, und ein schweres Gewicht drückte gegen meinen Kopf. Ich versuchte es wegzuschieben, bis ich realisierte, dass es der Boden war. Die Dielen, auf denen ich lag, waren mit scharfen Splittern übersät.
Ein trüber Schimmer erschien irgendwo in der Dunkelheit zu meiner Rechten. Ich kroch auf ihn zu, da ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte. Ich schob beiseite, was sich wie Glasscherben anfühlte, bis ich sah, dass das Licht von der Kerze kam, die ich brennend in der Bibliothek hatte stehenlassen.Die Angst war von mir gewichen. Vielleicht hatte ich einfach das Vermögen, etwas zu spüren, verloren. Ich erhob mich schwankend, ging über den Treppenabsatz zur Bibliothek, holte die Kerze und kehrte zur Galerie zurück – zu dem, was noch von ihr übrig war.
Am anderen Ende, wo der Sarg, der Kamin und die Rüstung gewesen waren, klaffte ein großes Loch in der Mauer. Der Boden war halb verschwunden, die Dielen endeten in einem gezackten hölzernen Durcheinander, keine zehn Fuß von der Stelle, an der ich gelegen hatte, entfernt. Staub wirbelte aus einer schwarzen Grube herauf.
Edwin ist dort unten.
Der Gedanke traf mich wie Eiswasser und spülte alle Benommenheit fort. Plötzlich zitterte ich, sodass ich kaum stehen konnte. Die Hand am Geländer, betend, die Flamme möge nicht ausgehen, ging ich langsam die Haupttreppe hinab. Der Staub in der Luft wurde dichter, als ich tiefer kam; ein schwaches Schaben und Tröpfeln hallte durch das Dunkel, aber die Eingangshalle schien kaum verändert. Der Kamin musste in das anliegende Zimmer gestürzt sein.
«Edwin?», rief ich, als ich am Fuß der Treppe angelangt war. Keine Antwort. Ich rief wieder und wieder, immer lauter, bis das Treppenhaus von seinem Namen widerhallte. Endlich kam von einem Durchgang, der in den hinteren Teil des Hauses führte, ein sehr schwaches Geräusch: tapp-tapp, tapp, tapp-tapp, tapp. Das Geräusch wurde immer lauter, je weiter ich ihm durch den feuchten, steinernen Korridor voller zuckender Schatten folgte, bis ich zu einer grob gezimmerten Holztür kam, die tief in die Mauer eingelassen war.
«Edwin, bist du das?»
Ein erstickter Schrei war von drinnen zu hören, und die Tür bebte leicht. Ich hob den Riegel und wich von der gebückten, geschwärzten Kreatur zurück, die mir entgegenkam und eine Laterne in der blutigen Hand hielt, bis ich sah, dass es Edwin war.
«Constance – Gott sei Dank! Was ist passiert? Es klang wie der Tag des Jüngsten Gerichts.»
«Nein, der Kamin ist eingestürzt – hast du ihn gesehen?»
«Gesehen – wen?»
«Magnus – er muss dich hier eingeschlossen
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