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Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harwood
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Dienst, den ich von
dir
erwarte. Sollte ich auf natürliche Weise sterben› – ich wollte fragen, welche andere Art, zu Tode zu kommen, er denn im Sinn hatte, unterließ es aber   –, ‹gibt es eine Reihe von Anweisungen bezüglich des Anwesens, auf die ich dich besonders hinweisen möchte.› Und er nannte dieGegenstände, die unter keinen Umständen verkauft oder aus dem Haus entfernt werden sollten, angefangen bei dem Tisch, an dem wir aßen. Er ging das Ess- und Wohnzimmer durch und zählte die Gegenstände an seinen Fingern auf, allerdings mechanisch, als wäre er in Gedanken anderswo.
    Als er aber zu dem kam, was er ‹meine Räume› nennt – also die Galerie, die Bibliothek und das Arbeitszimmer   –, änderte sich seine Haltung vollkommen. Die Rüstung in der Galerie musste genau so gelassen werden, wie sie vorgefunden würde, solange das Herrenhaus in der Familie bliebe. Er sagte das mit größter Eindringlichkeit und in einem Ton, der keinerlei Widerspruch duldete: Das war eine Bedingung für das Vermächtnis. Obwohl ich nicht weiß, und vielleicht ist es unangebracht zu fragen, ob   …»
    «Wir haben von Ihrem Onkel seit Jahren nichts gehört», erwiderte ich. «Natürlich kann er sich an jemand anderen gewandt haben.»
    «Nein, ich bin mir sicher, dass er zu Ihnen kommen würde. Er nannte dieselbe Auflage für die Bibliothek, aber seine Euphorie hatte ihn verlassen, und nachdem er noch einige weitere Räume durchgegangen war, sagte er, er würde es aufschreiben und als Kodizill seinem Testament beifügen.
    Mein Onkel verstummte; er trommelte mit dem Mittelfinger auf dem Tisch.
    ‹Sollte ich verschwinden›, sagte er plötzlich, ‹also, für den Fall, dass ich mich in nichts aufgelöst zu haben scheine   … wenn Drayton dich beispielsweise darüber informieren sollte, dass er mich nicht finden kann, dann darf niemand in meine Räume kommen. Niemand, verstehst du? Es sind keine Nachforschungen anzustellen; die Obrigkeit ist nicht in Kenntnis zu setzen, nichts darf getan werden, ehe drei Tage und drei Nächte vergangen sind. Danach, wenn es von mir keinerlei Nachrichten gab, darfst du mein Arbeitszimmer betreten – und tun, was immer nötig sein wird. Aber es darf nichts entfernt werden, ichbetone es nochmals, nichts. Oder dein Erbe ist verwirkt. Nimmst du das an? Antworte, ja oder nein.›
    Er nahm das Dokument, offensichtlich sein Testament, in beide Hände, als wäre er bereit, es in Stücke zu reißen, wenn meine Antwort ihm missfallen sollte.
    ‹Nun gut, ja›, antwortete ich, ‹aber sicherlich wird Mr   Montague der Geeignetere sein.›
    Darauf knurrte er – bitte verzeihen Sie –: ‹Ich traue Rechtsanwälten nicht, und außerdem hast du mehr zu verlieren als er. Habe ich dein Ehrenwort? – Sehr gut. Und jetzt muss ich mich wieder an meine Arbeit machen. Drayton wird sich um dich kümmern und dir morgen ein Frühstück machen. Ich gehe davon aus, dass du dich so früh wie möglich auf den Weg machen möchtest.›
    Er stand auf, steckte seine Papiere weg und verließ den Raum, ohne sich umzudrehen.»
    «Verzeihen Sie», fragte ich unwillkürlich, «aber ist Ihr Onkel immer so – direkt?»
    «So beleidigend trifft es eher; aber Sie sind zu höflich, das zu fragen. Nein. Selbst für seine Verhältnisse war das außergewöhnlich ungesittet, aber letztlich fiel mir das kaum auf. Ich blieb einige Zeit allein am Tisch sitzen und grübelte über seine merkwürdige Forderung nach, während die Kerzen niederbrannten und die Luft noch kälter wurde. War mein Onkel von Exzentrik zu völligem Wahnsinn übergegangen? Das war die offensichtliche Schlussfolgerung, und doch hatte ich nicht das Gefühl, mich in der Gegenwart eines Wahnsinnigen befunden zu haben. Oder hatte er über dem Verschwinden seiner Vorfahren gebrütet bis   … aber bis was? Die Antwort musste in der Galerie zu finden sein, wenn es sie irgendwo gab. Aber wie sollte ich Zugang zu ihr bekommen? Bevor mein Onkel schlafen geht, verriegelt er mehrfach alle Türen zu dem Stockwerk. Ich hielt diesen Gedanken für hoffnungslos und wollte ihn gerade aufgegeben und mich selbst zur Ruhe begeben, als mir die Leitung einfiel.
    Der Mond war im zweiten Viertel. Wenn der Himmel klar bliebe, wäre es hell genug. Ich sagte Drayton, dass ich noch etwas frische Luft brauchte und dass er nicht auf mich warten solle. Ich würde abschließen, wenn ich zurückkäme. Im Schatten des alten Kutschen-Hauses ließ ich die Stunden dahingehen.

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