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Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harwood
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Mitternacht kam und ging vorüber; es war halb zwei Uhr, als das Licht im Fenster vom Arbeitszimmer meines Onkels erlosch. Ich wartete noch eine halbe Stunde und ging dann zur Seite des Hauses, von wo ich die Mauer erklimmen wollte.
    Obwohl die Nacht vollkommen still war und nur wenige Wolkenfetzen am Mond vorbeizogen, blickte ich mehr als einmal ängstlich zum Himmel, ehe ich mir Panzerhandschuhe anzog und loskletterte. Die Unebenheit der Mauer bot meinem Fuß genug Halt. Trotz der Kälte war ich vollkommen durchgeschwitzt, noch ehe ich die Brüstung, die etwa auf Höhe der Galerie liegt, erreichte. Ein wenig oberhalb verschwand die Leitung in der Mauer. Das Fenstersims war mindestens zwei Meter über der Brüstung. Um den nächsten Teil der Leitung erreichen zu können, musste ich mich ganz aufrichten, auf der Kante stehend die Leitung mit der linken Hand ergreifen und mich hinüberschwingen, um mit der rechten den Fensterflügel zu öffnen.
    Ich hockte auf der Brüstung, ohne einen Blick nach unten zu wagen. Die Verse über den Mann, der auf einer Klippe Meerfenchel sammelt, schossen mir durch den Kopf und lähmten mich. Das letzte Stück kletterte ich in verzweifelter Hast, dann lag ich nach einem letzten Sprung über dem Sims und schnappte nach Luft.
    Das Mondlicht schien auf den dunklen Koloss der Rüstung herab, die beinahe direkt unter mir stand. Die Türen zur Bibliothek waren zu meiner Erleichterung geschlossen, kein Licht drang unter ihnen hervor. Ich ließ mich neben der behelmten Gestalt herab und wartete, bis mein Atem sich zu seinem gewohnten Tempo verlangsamt hatte.
    Mein Onkel, müssen Sie wissen, hat mich immer nur äußerst ungern in die Galerie gelassen. Das Recht, die Porträts meiner Vorfahren zu betrachten, konnte er mir nicht verwehren, aber er ließ mich nie allein bei ihnen, und so hatte ich die Rüstung bislang nur aus einiger Entfernung gesehen. Sie steht auf einer Metallplatte, die gepanzerte rechte Hand auf den Knauf eines gezogenen Schwertes, die Spitze auf den Boden gestützt. Aber ich hatte nur Augen für die zwei Stücke Leitung, die aus der Mauer kamen: Die eine war an der Rückseite des Helms befestigt, die andere an der Metallplatte. Wenn ein Blitz das Herrenhaus treffen sollte, dann würde die gesamte Kraft des Einschlags direkt in die Rüstung geleitet werden.
    Wegen der Dunkelheit beschloss ich, die mitgebrachte Kerze zu entzünden. In dem flackernden Licht sah die Rüstung beunruhigend wachsam aus. Das Schwert glomm unter der rechten Hand; die Schwertspitze durchdrang einen Schlitz in der Metallplatte. Ich fasste unwillkürlich nach dem Griff.
    Das Schwert bewegte sich daraufhin wie ein Hebel, mitsamt der metallenen Hand. Als ich es langsam zu mir hin zog, lief ein Zittern durch die Rüstung. Erschrocken wich ich zurück, aber mein Ärmel hatte sich in dem Griff verfangen, und so schwang das Schwert in seiner ganzen Länge aus. Die Rüstung explodierte sozusagen zum Leben: Die schwarzen Platten sprangen auseinander, als bahne sich ein monströser Insasse seinen Weg hinaus. Aber die Rüstung war leer. Als ich das Licht näher brachte, sah ich, dass die Platten auf beiden Seiten aufgehängt waren, sodass die gesamte vordere Hälfte – mit Ausnahme der Arme – sich nach außen öffnete. Als ich das Schwert in seine aufrechte Position zurückbrachte, schlossen sich die Platten beinah geräuschlos. Die Verbindungsstücke waren kaum zu sehen. Das musste einen geschickten Waffenschmied Monate mühseliger Arbeit gekostet haben.
    Ich hatte das Geheimnis meines Onkels entdeckt, aber was hatte es zu bedeuten? Was glaubte er, was geschehen würde,wenn – und das würde früher oder später der Fall sein – ein Blitz das Haus traf? Wollte er irgendeine unschuldige Person durch Täuschung oder Bestechung dazu bewegen, sich mit dieser Rüstung – vielmehr dem Sarg – zu ‹bekleiden› während eines Gewitters, sodass er beobachten konnte, was geschehen würde?
    ‹Wenn ich verschwunden zu sein
scheine
›, hatte er gesagt, ‹darf niemand meine Räume betreten, ehe drei Tage und drei Nächte vergangen sind.› Sollte ihm das die Zeit zur Flucht geben, falls sein Opfer starb?
    Oder erwartete er, dass etwas
in Erscheinung treten
würde? Ich muss zugeben, dass mir dieser Gedanke die Haare zu Berge stehen ließ – wie auch der Rückschluss auf die geistige Verfassung meines Onkels. Ich war fest entschlossen, sein Ansinnen aufzudecken, und blickte mich auf der Suche nach Hinweisen um.

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