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Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harwood
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hatte mehr oder minder vergessen, dass ich einer Séance beiwohnen würde, und dachte nur daran, Nell wiederzusehen. Am Samstagmittag hielt ich es zu Hause nicht mehr aus, und ich ging ins Cross Keys Inn, wo ich die Neuigkeiten, die bereits in aller Munde waren, vernahm: Mrs   Bryant war tot, Nell und ihr Kind waren in der Nacht verschwunden.
     
    ∗∗∗
     
    Der Hauptzeuge für die Geschehnisse war Godwin Rhys. Seiner Aussage vor Gericht zufolge (die ich hier weitgehend wortgetreu wiedergebe) hatte er sich etwa um Viertel nach sieben an diesem Abend zu Magnus und Mrs   Bryant in der alten Galerie gesellt. Sie besprachen die bevorstehende Séance am nächsten Abend; Mrs   Wraxford kam etwa zwanzig Minuten später hinzu. Sie wirkte besorgt und befangen. Als Doktor Rhys sie, wie er es ausdrückte, «unbeabsichtigt an den Tod ihres Verlobten in Wraxford Hall etwa zwei Jahre zuvor erinnerte», verließ sie erschüttert die Galerie. Die anderen führten ihre Unterhaltung beim Dinner etwa bis um zehn Uhr fort, als sich Doktor Rhys und Mrs   Bryant in ihre Zimmer zurückzogen, während Magnus noch unten blieb.
     
    Doktor Rhys (wie er selbst sagt, hat er einen leichten Schlaf) ging gegen elf Uhr zu Bett, war aber noch wach, als es halb zwölf schlug. Bald darauf hörte er Schritte – die einer Frau, dachte er. Er nahm an, es wäre eine der Hausangestellten, die an seiner Tür vorbeiging; sein Zimmer lag am Anfang des Korridors, gleich am Treppenabsatz. Es hatte Viertel vor zwölf geschlagen, und er dämmerte gerade ein, als er davon aufschreckte, dass ein Schlüssel in einem Schloss gedreht wurde. Draußen war heller Mondschein, der allerdings nicht direkt in sein Zimmer fiel. Er öffnete die Tür einen Spalt und sah Mrs   Bryant in so etwas wie einen dunklen Mantel gehüllt den Korridor betreten und mit einer Kerze, deren Flamme sie mit der Hand schützte, in Richtung des Treppenabsatzes gehen. Ihr Gesichtsausdruck legte nahe, dass sie schlafwandelte.
    Die Kerzen entlang des Korridors waren gelöscht worden, so konnte er ihr ungesehen folgen. Das Mondlicht fiel durch die hohen Fenster am anderen Ende des Ganges. Mrs   Bryant blies ihre Kerze aus und setzte ihren Weg fort, vorbei an der Bibliothek und bis zur Galerie, wo sie durch eine Tür trat und damit seinem Blick entschwand. Er blieb, wo er war, etwa vierzigSchritte entfernt, und sah zum Treppenhaus hinüber, das in völliger Dunkelheit lag.
    Schwache Laute, als ginge jemand auf Socken umher, kamen von der Galerie. Das Schlurfen verhallte; er hielt die Luft an, um einen anderen, noch schwächeren Laut auszumachen: ein gedämpftes Knirschen, als würde eine Tür langsam und verstohlen geöffnet.
     
    Der Schrei, der dann folgte, war markerschütternd, ein anhaltendes Kreischen, voller Entsetzen und Abscheu, das eine unerträgliche Höhe erreichte und dessen Echo das Treppenhaus hinauf- und hinabwanderte. Mehrere Sekunden stand er paralysiert; Türen wurden geöffnet, und er hörte Schritte, was ihn wieder zur Besinnung kommen ließ.
    Doktor Rhys betrat als Erster die Galerie. Er fand Mrs   Bryant auf dem Boden zwischen dem runden Tisch und der Ritterrüstung liegen, tot, die Augen geöffnet; ihre Gesichtszüge waren vor Entsetzen verzerrt. Mrs   Bryants Dienstmädchen rannten herbei, als er neben ihrer Leiche niederkniete, kurz darauf folgten Bolton und einige Angestellte. Magnus (Alfred, der Lakai, bestätigte das später) hatte zu einem Spaziergang im Mondschein das Haus verlassen. Er hatte den Schrei zweihundert Meter vom Haus entfernt gehört und rannte zurück.
    Magnus kam also erst einige Minuten nach Doktor Rhys in die Galerie. Seine erste Frage, als er den Leichnam sah, war: «Wo ist meine Frau?» Das Dienstmädchen Carrie wurde sofort zu Mrs   Wraxfords Zimmer gesandt, wo sie mehrfach klopfen musste, ehe ihre Herrin im Nachtkleid in der Tür erschien. Sie als Einzige war von Mrs   Bryants Schrei nicht erwacht. Als Carrie ihr sagte, das Mrs   Bryant tot sei, erwiderte sie: «Es gibt nichts, was ich tun könnte; sag meinem Mann, dass ich ihn morgen früh sehen möchte», und schloss wieder die Tür. Carrie hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte.
    Mrs   Bryants Leichnam wurde in ihr Zimmer gebracht. DoktorRhys konnte bei der Untersuchung keinerlei Verletzungen feststellen; alles sprach dafür, dass sie an Herzversagen aufgrund eines Schocks gestorben war. Aber was hatte den Schock verursacht? Die Durchsuchung der Galerie und der

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