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Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harwood
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Gefährte auf dem Kies, die Pferde eingespannt, als seien sie abfahrbereit. Dienstleute rannten zwischen ihnen hin und her und verstauten Kisten, Taschen und Bündel mit Kleidern. Ein schmaler, blonder junger Mann in Tweedhosen stand bei der größten der Kutschen und leitete das Bepacken. Er sah mich ängstlich an und sagte, dass der Bestatter bereits gegangen sei. Für einen schrecklichen Moment dachte ich, sie hätten Nell mitgenommen. Er war so aufgeregt, dass ich erst nach wiederholtem Nachfragen erfuhr, dass er Doktor Rhys war, und ihn davon überzeugen konnte, dass ich kein Chirurg war. Erst nach etlichen weiteren Minuten erhielt ich von ihm eine kurze Beschreibung der nächtlichen Ereignisse. Ich wollte ihn gerade fragen, warum die Angestellten den Hausstand einpackten, anstatt bei der Suche zu helfen, als ich Magnus zwischen einigen Männern bei den Ställenerblickte. Ich ließ Godwin Rhys bei der Kutsche stehen und ging mit einem gewissen Unbehagen hinüber.
    Magnus entfernte sich von der Gruppe   – Arbeiter und Kleinbauern, von denen ich einige kannte   –, als ich mich näherte. Bolton verteilte Münzen an die Männer, und für eine Sekunde flammte meine Hoffnung auf.
    «Gibt es was Neues?», rief ich, alles vergessend, außer meiner Sorge um Nell. «Haben Sie sie gefunden?»
    «Nein, Montague, wir haben sie nicht gefunden», sagte er kalt. «Ich hatte gedacht, dass Sie mir vielleicht etwas sagen können.»
    Bolton sah mich an. Er war zwanzig Fuß entfernt – zu weit, so hoffte ich, als dass er hören konnte, was wir sprachen – aber der Spott in seinem Grinsen machte deutlich, wer uns aus dem Schutz des Schattens beobachtet hatte.
    «Ich weiß nichts», antwortete ich und bemühte mich, Magnus’ Blick standzuhalten. «Wenn sie nicht gefunden wurde, warum packen Sie dann?»
    «Weil meine Frau nicht hier ist. Ich nehme an, sie ging – alles zuvor arrangiert – in aller Frühe fort. Jemand muss mit einem Einspänner oder dergleichen auf sie gewartet haben», sagte er und sah meinen Wagen an, «und mit ihr fortgefahren sein.»
    «Sie meinen, man hat sie
gesehen
–?»
    «Nein, aber es ist die einzige Erklärung. Sie ist nicht im Haus; sie kann im Wald nicht sehr weit gekommen sein mit einem Kind auf dem Arm   … obwohl man die Suche nach dem Kind natürlich fortführen muss   –»
    «Was meinen Sie damit?»
    «Es ist möglich – insbesondere, wenn sie mit einem Liebhaber floh   –, dass sie das Kind ausgesetzt hat, wenn nicht gar ihm etwas angetan   …»
    «Das ist monströs!», rief ich aus. «Das kann nicht Ihr Ernst sein; sie würde nie   …»
    «Ich bin mir darüber im Klaren, Montague, dass Sie ein sehrenges Verhältnis zu meiner Frau haben. Aber ich zweifle daran, dass Ihre Intimität auch ein Verständnis für ihre geistige Verfassung mit einschließt, die bestenfalls prekär ist. Sofern Sie mir nicht sagen können, mit wem und wann sie fortgegangen ist, haben Sie hier nichts verloren.»
    «Magnus, ich versichere Ihnen, dass nichts   …» Die Worte verebbten unter seinem Blick. «Ihre Sicherheit ist jetzt das einzig Wichtige. Nehmen Sie an, Ihre Hypothese ist falsch und die beiden haben sich irgendwo verirrt – können Sie es verantworten, sie im Stich zu lassen?»
    «Ich halte es für sehr viel wahrscheinlicher, dass
sie mich
verlassen hat. Einige Männer werden, wie gesagt, noch etwa eine Stunde weiter den Wald durchsuchen. Ich werde hierbleiben, für den Fall, dass sie zurückkehrt; alle anderen werden innerhalb der nächsten Stunde nach London abfahren. Sie werden mir zustimmen, dass es für Sie nicht mehr angemessen ist, weiterhin der Notar für dieses Anwesen zu sein. Sorgen Sie bitte dafür, dass die Schlüssel, die Dokumentenkassette und alle übrigen Wraxford-Papiere so bald wie möglich an Mr   Veitch von Gray’s Inn weitergeleitet werden. Leben Sie wohl.»
    Er schritt auf das Haus zu, gefolgt von Bolton, der immer noch grinste.
     
    ∗∗∗
     
    Ich durchlebte, oder vielmehr durchlitt, die Nacht mit Bildern von Nell, wie sie ihr Kind erwürgte, den Leichnam im Mönchswald vergrub und mit ihrem Geliebten (den ich mir unweigerlich als Edward Ravenscroft vorstellte) floh. Als ich endlich diese entsetzlichen Bilder verscheucht hatte, sah ich Magnus vor mir, der sie und das Kind in einem eifersüchtigen Wutanfall ermordete mit dem Ziel, den Verdacht auf mich zu lenken: Jeden Moment könnte die Polizei mit einem Haftbefehl an meine Tür klopfen. Aber was wäre, wenn

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