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Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harwood
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er hasst mich – und ich muss tun, was er wünscht, um Claras willen   …»
    Die Worte stürzten hervor, zusammen mit Tränen. Ich hatte spontan ihre Hand in meine genommen; nach großer Anstrengung hatte sie sich wieder in der Gewalt und löste ihre Finger aus meinen.
    «Nell» – versehentlich sagte ich ihren Namen   –, «wenn ich gewusst hätte   … Misshandelt er Sie?»
    «Nein», sagte sie. «Er lässt mich vollkommen in Ruhe. Das ist das erste Mal, dass er mich um etwas bittet, seit   … Es ist das erste Mal. Wissen Sie, er glaubt, dass ich hellsehen kann   –»
    «Und glauben Sie das?»
    «Ich will es nicht glauben. Ich versuche es nicht zu glauben. Die Visitationen sind ein Fluch, eine Plage. Meine Sehnsucht, von ihnen befreit zu werden, hat mich in diese irrige Ehe mit ihm geführt, und darum bin ich hier. Er sagt, dass es in dieser Séance – das ist es, was er vorhat – nur meiner Gegenwart bedürfe. Ich weiß nicht, ob ich ihm glauben soll.»
    «Aber Sie gegen Ihren Willen zu zwingen – und ein Baby ausgerechnet hierher zu bringen   –»
    «Das kann ich ihm nicht zum Vorwurf machen. Er wollte, dass ich Clara in London lasse, aber ich lehnte es ab. Sie mögen das für egoistisch und falsch halten, aber Magnus ist sie gleichgültig – er wollte einen Sohn   –, und wenn ich mich ihm widersetze, dann wird er mich einweisen lassen. Mrs   Bryants Arzt ist ganz gebannt von ihm, und ich bin mir sicher, dass er die Einweisung unterschreiben würde   –»
    «Aber Sie benehmen sich nicht wie eine Verrückte. Leiden Sie noch unter dieser – Beeinträchtigung?»
    Sie schüttelte stumm den Kopf.
    «Dann hat er keinen Grund – und abgesehen davon sollte ein Arzt nicht seine eigene Ehefrau einzuweisen versuchen, dem Gesetz nach darf er das nicht. Hat er mit der Einweisung gedroht?»
    «Ohne Worte – nur in Andeutungen.»
    «Verzeihen Sie, aber sind Sie sich in dieser Sache ganz sicher?»
    «Nein, Mr   Montague, ich bin mir nicht sicher. Das ist das Leidige an meiner Situation. Magnus ist mir ein vollkommenes Rätsel. Ich weiß nicht, was er wirklich denkt oder fühlt oder glaubt. Aber es macht keinen Unterschied. Ich kann es Claras wegen nicht riskieren, mich ihm zu widersetzen. Und er hat gesagt – oder es klang zumindest an   –, dass er, wenn die Séance erfolgreich verläuft, mit einer Trennung einverstanden wäre.»
    «Und wenn sie ein Misserfolg wird?»
    «Dazu hat er nichts gesagt, und ich habe nicht gewagt, danach zu fragen.»
    Ich schwieg einige Zeit und starrte auf den Kies zu meinen Füßen.
    «Wenn ich irgendetwas tun kann   –», sagte ich.
    «Es gibt eine Sache», sagte sie. «Ich habe ein Tagebuch, eine Beschreibung meines Lebens bis zu meiner Hochzeit. Ich habe es mitgenommen, weil ich nicht wusste, was ich sonst damit tun sollte. Aber es wäre mir lieber, wenn es in sicheren Händen wäre. Würden Sie das Tagebuch mitnehmen und mir versprechen, es sicher für mich zu verwahren und es niemals jemandem zu zeigen, ehe Sie von mir hören?»
    «Bei meinem Leben», sagte ich.
    «Dann hole ich es – nein, bleiben Sie hier – ich brauche nur wenige Minuten.»
    Sie ging mit einem Blick auf die Lichtung rasch davon, währendich inständig bereute, ihr meine Eifersucht auf Edward nicht schon an jenem Wintertag im Pfarrhaus gestanden zu haben. Wäre es möglich, wenn sie und Magnus sich trennen sollten   …? Auch ich blickte über die Lichtung und die heruntergekommenen Nebengebäude im Hintergrund rechts von mir. Etwas hatte meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen; etwas Dunkles, das sich im Schatten der alten Ställe bewegte. Ich kam mir plötzlich selbst verdächtig vor: wie ein Eindringling auf Magnus’ Gelände.
    Eine Tür knarrte, und Nell erschien mit einem Päckchen in der Hand. Als sie es mir übergab, konnten wir beide plötzlich unsere gegenseitige Zuneigung spüren, sie erhob ihren Kopf zu mir und unsere Lippen berührten sich ganz leicht, ehe sie flüsterte: «Sie müssen gehen.» Ich wandte mich im Weggehen noch einmal um und konnte gerade noch sehen, wie sich die Tür hinter ihr schloss.
     
    Ich kehrte nach Aldeburgh zurück, ganz eingenommen von wilden Phantasien; alle meine Sinne wie verzaubert von diesem berauschenden Moment. Den nächsten Tag verbrachte ich in einem Wechsel aus Hoffnung und Angst. Ich stellte mir vor, wie Magnus ankam, und ich quälte mich mit der Frage, wie sehr ihr «er lässt mich vollkommen in Ruhe» wohl der Realität entspräche. Ich

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