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Ruhe Ist Die Erste Buergerpflicht

Titel: Ruhe Ist Die Erste Buergerpflicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willibald Alexis
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über Vieles ausgesprochen haben.
     

Zweiunddreißigstes Kapitel.
     
Iphigenia.
    Der Unterricht, den Walter im Lupinus'schen Hause ertheilte, war einige Tage ausgefallen, weil Mamsell Alltag sich unpässlich befand. Doch hatte der Bediente hinzugefügt, es habe nichts zu bedeuten. Walter war zufrieden, obgleich er nie zufriedener war, als wenn an den Gensd'armenthüren die Glocke schlug, die ihn zur Stunde rief; er hatte in diesen Tagen seine Arbeit fertig machen können.
    Adelheid sah heute wirklich noch etwas blaß aus, aber nie hatte Walter sie reizender gesehen. Ein Häubchen umschloß ihre Locken, ein leichtes, bis unter dem Halse schließendes Morgenkleid ihre elastischen Glieder. Den griechischen Schnitt, in den die Geheimräthin sie nöthigte, hatte er nie geliebt. Der schöne Arm erschien ihm heut schöner unter dem faltigen Ueberrock, als wenn er in leuchtender Fülle aus den kurz geschnittenen Aermeln schoß. Sie war ihm rasch entgegen geeilt, sie hatte seine Hand so herzhaft gedrückt, und doch zitterte sie. Sie hatte ihr Guten Morgen nie mit einem so festen Tone gesprochen, und doch war ihre Stimme etwas belegt. Sie hatte ihn herzlich angesehen, und doch sogleich wieder die Augen gesenkt.
    »Wir haben viel nachzuholen, lieber van Asten,« hatte sie gesagt »darum müssen wir rasch anfangen.« Sie saß am Tisch, er ihr gegenüber. Es war ein wunderschöner Morgen. Die Linden auf dem Hofe spielten im Sonnenschein. Der Schatten der Blätter spielte durch das geöffnete Fenster auf die Tischplatte. Es funkelte auch golden auf den Blättern des Buches. Daher mochte es kommen, daß er sich verlas; auch sie las oft falsch. Und dazu zwitscherten die Sperlinge, gewohnt am Fenster die Krumen zu stehlen, welche Adelheids Hand ihnen hinstreute, und eine Wespe verirrte sich in die Stube und trieb Unfug, bis man sie mit den Tüchern hinausgescheucht.
    Es war viel Störung in der heutigen Lektion.
    Walter schlug vor, das Fenster zu schließen. Adelheid fand die freie Luft so schön, ihr sei noch so beklommen. Aber es würde schon vorübergehen – »ich werde schon Muth bekommen,« setzte sie leiser hinzu.
    Sie hatten heute die Iphigenia beendet. Adelheid hatte den letzten Akt gelesen.
    »Sie müssen mir später ein Mal die ganze Iphigenia hinter einander vorlesen, wenn Sie bei voller Stimme sind,« sagte Walter. »Das Gedicht klingt und dringt ganz ins Herz mit Ihrer schönen Stimme. Das Parzenlied –«
    »Heut könnte ich es nicht lesen,« fiel Adelheid ein, »es ist zu schrecklich.«
    »Für den schönen Morgen! Sie haben Recht. Wir müssen uns heut allein mit dem Charakter der Iphigenia beschäftigen. Iphigenia ist der leuchtende Gedanke der Versöhnung, der in der alten Welt wie ein Strahl auf dunklem Meere erscheint, aber er fand noch nicht die eigentliche Verkörperung. Was die griechischen Dichter noch als einen Torso hinstellten, hat der Deutsche, der aus anderer Quelle sein Licht schöpfte, zur Erscheinung gebracht. Dieses Atridengeschlecht –«
    »Um Gottes Willen,« rief Adelheid, »wie konnten die alten Dichter so etwas ersinnen! Sie sagten doch, die Griechen hätten immer der Schönheit gehuldigt und selbst dem Hässlichen wussten sie eine Wendung zu geben, daß es das Gefühl nicht verletzte. Wie ist es nun möglich, daß sie solche Greuel erfanden, die doch unmöglich sind?«
    »Unmöglich?« fragte der Lehrer. »Die erste Geschichte des Hellenenthums ist nur eine Verkörperung des Kampfes, den die Kultur mit der Barbarei geführt. Der Barbarei ist alles möglich, und wenn der finstre religiöse Wahn hinzutritt, ist sie zu Greueln fähig, für die uns Begriff und Worte fehlen. Ertödten wir aber Kultur, reißen wir die edle Humanität an der Wurzel aus, welche Kunst, Wissenschaft, der Geist des Christenthums jetzt durch Jahrtausende gepflanzt und gepflegt, so sinken wir Alle wieder in den Naturzustand, in die Barbarei zurück, wo die Thaten des Atreus und Thyestes möglich sind.«
    Sie schauderte, vor sich niederblickend. Hatte er zuviel gesagt?
    »Vor einer andern Schülerin würde ich das nicht sagen, aber Ihr Geist, Adelheid, ist stark. Sie selbst haben, so jung noch, Prüfungen zu überstehen gehabt, Sie haben Blicke in die wüste Verworfenheit gethan. Ist z.B. eine Mutter, die ihr Kind ermordet, nur um mit Anstand noch in der Gesellschaft weiter zu erscheinen, so viel besser, als jene Barbaren, die ihrem Rachetrieb alles opferten! Und sind es die Vielen hier, welche aus falscher Empfindsamkeit

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