Ruhe Sanft
Mädchen.
»Oh, gewiß, gewiß, Verzeihung, wie dumm. Kommen Sie, kommen Sie. Ich nehme Mäntel.«
Die Drehtür beförderte drei Frauen und einen bärtigen Mann herein. Die Frauen trugen von Motten zerfressene Pelzmäntel und paillettenbesetzte Abendkleider aus Tüll, der Mann eine Pelzmütze und einen voluminösen Regenmantel. Unter dem Arm hatte er eine Zeitung. Die kleine Halle war plötzlich überfüllt.
Misha war wie elektrisiert. »Folgen Sie bitte, Mesdames et Messieurs.« Er zwinkerte Teddy und Wetzon zu und knickste und tänzelte, bevor er ihnen vorausging. »Garderobe, Garderobe!« dröhnte er. »Kommen Sie, kommen Sie!«
Die durchdringenden Klänge eines Akkordeons wurden zu ihnen herausgetragen. Wetzon sah an ihren Skihosen, dem fülligen Rollkragenpullover und den Stiefeln hinunter und fand sich auffallend unpassend angezogen. Sie folgten den neu eingetroffenen Gästen über den kurzen Korridor, der sich in einen großen Saal öffnete, in dem dicht an dicht runde und eckige weißgedeckte Tische standen. Erstaunlich viele waren besetzt und brachen unter der Fülle der aufgetragenen Speisen fast zusammen. Es gab eine kleine Tanzfläche und eine erhöhte Plattform am gegenüberliegenden Ende des Saals als Musikpodium. Ein paar leere metallene Notenständer standen herum, und ein großer silberner Flügel nahm die Hälfte des Podiums ein. Ein einzelner Akkordeonspieler im abgewetzten Smoking, einen roten Seidenschal um den Hals und über der Schulter, saß auf einem Stuhl und spielte eine traurige Melodie. Mehrere Frauen an den vorderen Tischen sangen voller Schmerz und ein wenig falsch mit.
An den Wänden ringsum standen gepolsterte Zweierbänke, die mit rotem Samt bezogen waren. Nur sehr wenige waren besetzt.
Ein großer, dünner Kellner in schwarzem Anzug und weißem Hemd mit schwarzer Fliege kümmerte sich um den Mann und die drei Frauen, die nach Teddy und Wetzon hereingekommen waren.
Sie befanden sich in einem schäbigen Nachtklub im Stil der vierziger Jahre. An der Decke waren drei konzentrische Kreise aus Glühbirnen, die sich gegenläufig bewegten. Ein halluzinogener Nebel hing wie ein Deckel aus Rauch über dem Saal. Anscheinend rauchten alle bis auf Wetzon und Teddy. Große Kleiderständer aus Messing, schwer beladen mit Mänteln, standen an verschiedenen Stellen an den Wänden entlang und teilten sich den Platz mit einem Dutzend echter oder künstlicher Palmen.
Das Baltic war eine kuriose Mischung aus schäbig und altmodisch europäisch. Silberbestecke klapperten auf schwerem weißem Haushaltsporzellan, Kerzen beleuchteten die Tische. Eine üppig proportionierte Frau in langem schwarzem Rock, glitzerndem Pullover und hohen silbernen Sandalen tanzte mit einem kleinen glatzköpfigen Mann, der einen viel zu engen braunen Anzug mit breiten Revers trug, steif zur Akkordeonmusik. Ab und zu drehte er seine gewaltige Partnerin in eine anmutige Spirale ein.
Wetzon schloß die Augen und lächelte, während sie sich und Carlos vor sich sah, als sie in der Wiederaufnahme von She Loves Me! in so einer Tanzcafekulisse getanzt hatten. Sie schaute sich um, weil sie Teddys Meinung wissen wollte. Er war fort. Sie stand ganz allein da. Auch Misha war weg. Sie fühlte sich unsichtbar, verwirrt, wie mitten in einem Traum. Im Saal war es drückend schwül... Wo war Teddy? Kellner in Smokings eilten vorbei, balancierten riskant riesige Platten mit Speisen.
»Kommen Sie, Vetski«, sagte Misha, der wieder neben ihr auftauchte. Er berührte ihren Ellbogen leicht und versuchte, sie zu einer der gepolsterten Bänke zu steuern. Sie widersetzte sich höflich, aber bestimmt. »Teddy kommt gleich zurück. Ich warte lieber hier auf ihn.«
»Ich nehme dann Mantel. So warm hier, nein?« Seine dunklen Augen beobachteten sie. Sie konnte nicht darin lesen.
»Nein, danke.« Sie war in Schweiß gebadet, aber was wäre, wenn sie schnell verschwinden müßten? Wo zum Teufel war Teddy?
»Sie fühlen sich wohl, Vetski?« Misha kam mit dem Gesicht ganz nahe an ihres. Er roch nach Zigaretten. Wie alle hier. »Ah, da ist ja Tuvya.«
War auch höchste Zeit, dachte Wetzon. Teddy, der den Mantel über eine Schulter geworfen hatte, kam durch Schwingtüren links von ihnen, gefolgt von einer kleinen molligen Frau, deren Haar sich in einer schweren Flechte wie eine Tiara auf dem Kopf türmte. Sie war in weinroten Satin gehüllt, gerade kurz genug, daß man die wohlgeformten Waden und winzigen Füße in zum Kleid passenden Schuhen mit
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