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Ruhe Sanft

Ruhe Sanft

Titel: Ruhe Sanft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Meyers
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Ausdruckslosigkeit.
    Ilena stand auf, indem sie sich aufrichtete wie eine Tänzerin, und rief auf Russisch einen Kellner herbei, der mit einer Platte Pumpernickel zu ihnen geeilt kam. Als sie den Kopf neigte, bemerkte Wetzon, daß Ilena ein großes rotes Muttermal nahe dem Mundwinkel hatte. Sie hatte etwas an sich... »Warten Sie, sind Sie nicht Ilena Milanova?« Wetzon erinnerte sich an die Tänzerin beim Kirov — sie hatte sie sogar tanzen gesehen, als das Kirov vor vielen, vielen Jahren eine Tournee durch die Vereinigten Staaten gemacht hatte. Jene Ilena, ein elfengleiches Geschöpf, war der Star gewesen. Als sie mit ihrem Mann einen Antrag auf Auswanderung gestellt hatte, weil sie Juden waren, war ihre Karriere abrupt beendet worden. Es hatte Jahre gedauert, bis sie aus Rußland herauskamen.
    »Aber ja, mein Schatz.« Ilena strahlte, und ihr Gesicht wurde weich. Tränen stiegen ihr in die blauen Augen. »Sehen Sie, was passiert, wenn wir aufhören tanzen.« Sie tätschelte ihren schweren Busen, dann klopfte sie mit dem Zeigefinger heftig auf Wetzons Hand. »Dürfen nie aufhören tanzen.«
    »Ich? Wie...«
    »Kann immer sagen. Haar, Kopf. Ist wie Kleidung, die wir tragen. Ist in Blut. In Seele. Meine... Ihre.« Ihre Hand flatterte auf ihrer Brust.
    Wetzon war überwältigt. »Ich war nie wie Sie, Ilena. Ich tanzte am Broadway — in der Gruppe. Ich war bloß eine Zigeunerin.« Sie strich Butter auf eine Scheibe Pumpernickel, der ein wenig altbacken war. Sie trank noch einen Schluck Wodka und aß einen großen Bissen Pumpernickel. Nur jetzt keinen benebelten Kopf bekommen.
    »Ist alles Familie«, sagte Ilena.
    »Vetski vermittelt jetzt Jobs für Börsenmakler.« Teddy legte den Kopf in den Nacken und trank noch ein randvolles Glas Wodka. Wetzon starrte ihn wütend an. Es wäre schrecklich, wenn Teddy sich betrinken würde.
    Der Kellner mit dem kleinen schmucken Bart, der die Pumpernickel gebracht hatte und jetzt die Wodkagläser nachfüllte, blieb stehen und starrte Wetzon gespannt an. Wetzon starrte zurück, dann sah sie weg. Nervös nahm sie einen großen Schluck Wodka, würgte und bekam einen Schweißausbruch. »Die Toilette«, keuchte sie und kam unsicher auf die Beine.
    Ilena lächelte und zeigte quer über die Tanzfläche. »Ist gesunder Schweiß. Von Wodka.«
    Teddy lachte zu laut. »Dich kann man nirgendwohin mitnehmen, Vetski.«
    Halt den Mund, Teddy, dachte sie.
    »Macht nichts.« Ilenas Blick glitt hastig durch den Saal.
    »Gehört zur Arbeit«, sagte Wetzon und fixierte Teddy mit einem harten Blick, weil er vor Lachen brüllte. Sie ging auf die Damentoilette zu.
    »Was gehört zu Arbeit?« hörte sie Ilena fragen.
    Die Musik hatte eingesetzt, und Gäste sprangen auf und tanzten im Kreis. Die extravagant gekleideten Frauen übertrafen die Männer bei weitem an Zahl. Wetzon bahnte sich ihren Weg durch und um die Tanzenden herum und in einen kleinen dunklen Flur, der mit zwei Türen endete. Mesdames auf der einen, Messieurs auf der anderen.
    Sie betrat Mesdames. Rot gemusterte Tapete, goldene Leisten. Eine Plastiktheke mit Goldsprenkeln. Sie schob die Ärmel hoch und hielt die Handgelenke unter kaltes Wasser. Schweiß drang aus jeder Pore. Herrgott. Ihre Lippen schmeckten salzig. Sie benutzte die Toilette, kam heraus, bespritzte die Wangen mit kaltem Wasser und tupfte sie mit einem Papiertuch trocken. Sie kramte im Rucksack nach der kleinen Niveadose, die sie immer dabeihatte, und kremte damit Hände und Gesicht ein.
    Sie war wütend auf Teddy. Er war ungefähr so feinfühlig wie ein Zehntonner. Ein schöner Reporter. Die brachten nichts zuwege. Sie hatte Ida nicht gefunden. Sie hatte einen armen Ladenbesitzer und seine Frau, die sie vermutlich für eine KGB-Agentin hielten, zu Tode erschreckt... aber man stelle sich vor, Ilena Milanova an so einem Ort zu treffen. Sie lächelte sich kalt im Spiegel an und zog die Lippen nach.
    Eine untersetzte Frau in mittleren Jahren in einem kurzen blaßblauen Taftkleid, das viel fleischigen Schenkel in hauchdünnen Strumpfhosen mit floralem Muster zeigte, kam in den kleinen Raum. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie. Sie trug einen breitkrempigen hellblauen Hut und sah aus wie eine Nutte, die die Schönheit aus dem Süden spielte. Ihre Augen waren durch dicke Lidstriche betont, die Lider mit blauem Lidschatten. Sie drängte sich an Wetzon vorbei und begutachtete dabei abfällig Wetzons Aufmachung. Wetzon betrachtete sich selbst im Spiegel. Ja, bestimmt, sie war ganz

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