Ruhe Sanft
wahnsinnige Tsminsky ihnen nicht mit dem Messer auf die Straße gefolgt war.
»Was haben wir bloß gesagt, das ihn so aufgeregt hat?« Wetzon hüpfte von einem Bein auf das andere, um sich Warmzuhalten.
»Aufgeregt! Ganz schön untertrieben, Wetzi. Er hätte uns töten können.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht.«
Er wurde plötzlich streitlustig. »Ihr Yuppies seid so von euch überzeugt, daß ihr kein Gefühl für Gefahr habt. Du kennst diese Leute nicht. Nur gut, daß ich hier bei dir bin.«
Wetzon bedachte ihn mit einem kalten, harten Blick. »Ich betrachte mich nicht als Yuppie, du Arsch. Sprich bloß nicht noch mal so mit mir.«
Sie ging von ihm weg, die Straße hinunter. Das winterliche Zwielicht ging schnell in den Abend über. Die Leute trieben sich abends nicht auf der Straße herum. Und von den wenigen, die an ihnen vorbeigegangen waren, zweifellos auf dem Heimweg, schien niemand den Vorfall in Tsminsky’s Ice Cream Shoppe bemerkt zu haben.
»Halt, warte einen Moment, Wetzi.« Teddy lief ihr nach und hielt sie am Arm fest. »Du, es tut mir leid. Ich habe es nicht so gemeint. Ich weiß, daß du kein Yuppie bist.« Er strahlte sie mit seinem breiten, bezaubernden Lächeln an und drückte sie an sich, aber Wetzon blieb steif in seiner Umarmung. Sie ärgerte sich immer noch. »Nun sag schon, daß du mir verzeihst.«
»Okay«, sagte sie widerwillig. Komisch, da meint man, jemanden gut zu kennen, und dann merkt man auf einmal, daß man ihn überhaupt nicht kennt. Sie hatte Teddy nicht so schroff in Erinnerung, aber sie waren vor langer Zeit befreundet gewesen, und die Menschen ändern sich. Sie war sicher auch nicht dieselbe Person, die sie damals gewesen war. »Hältst du es nicht für eigenartig, daß niemand auch nur bemerkt hat, wie wir aus dem Laden stürzten?«
»In dieser Gegend hier«, erwiderte Teddy, »machen die Leute es sich zum Prinzip, nichts zu bemerken.«
Man betrat das Café Baltic durch eine Drehtür wie ein Kaufhaus. Sie kamen in eine kalte, schummrig beleuchtete Halle mit einer Garderobe auf der rechten Seite und einem Pult links, das mit Schnüren aus bunten kleinen Glühbirnen dekoriert war. Beide Stellen waren unbesetzt.
Die winzigen Eisnadeln an Teddys Haaransatz und Oberlippe schmolzen. Er zog ein gefaltetes Taschentuch aus der Gesäßtasche und wischte über sein Gesicht, ohne es aufzufalten. »Ich weiß nicht, Wetzi.« Er schüttelte den Kopf. »Wir sind hier tief in die Scheiße getreten.«
»Ich versuche immer noch zu kapieren, was passiert ist. Eben noch fragten wir höflich, und in der nächsten Minute ging er mit dem Messer auf uns los. Du warst wirklich schnell, Teddy. Du glaubst doch nicht im Ernst, er hätte uns verletzt?«
»Hättest du im Zweifelsfall zu seinen Gunsten entscheiden wollen?« Er öffnete den Reißverschluß seines Mantels. »Konntest du diesen Mann im Fenster erkennen? Meinst du, der hat ihn so aus der Fassung gebracht?«
»Weiß nicht. Könnte auch einfach ein Passant gewesen sein.« Sie stopfte die Handschuhe, die Baskenmütze und den Schal in den Rucksack. »Aber es war unmittelbar, bevor er wie ein Wahnsinniger auf uns...«
»Tuvya!« Ein winziger Mann mit einem ausgemergelten Gesicht voller Nähte und Schwielen kam aus einem Korridor hinter dem bunten Pult. Er war dunkelhäutig wie ein Zigeuner, hatte große feuchte schwarze Augen und trug eine schwarze Samtjacke, schwarze Smokinghosen, ein gekräuseltes weißes Hemd und eine breite rote Seidenkrawatte, festgesteckt mit einer großen Krawattennadel, die verdächtig nach einem echten Diamanten aussah. »Lange nicht gesehen«, sagte der kleine Mann mit breitem russischem Akzent, dann lachte er dröhnend. »Und Wer, wenn ich darf fragen, ist hübsche Dame?«
»Das ist Wetzi. Wetzi, sage meinem Freund Misha Rosenglub guten Tag.«
Wetzon streckte die Hand aus, und Misha Rosenglub beugte sich tief und küßte ihr die Hand, indem er sie kaum mit dem Atem streifte. Es war eine unglaublich zarte Geste. Wetzon war entzückt.
»Vetski? Sie sind Russin?« Freude breitete sich über Mishas Gesicht aus. Ein Goldzahn funkelte in seinem roten Mund. Hatte er Lippenstift aufgetragen? Er hielt immer noch ihre Hand.
»Nein.« Wetzon lächelte ihn an.
»Nein, sie ist keine Russin, Misha, und nun hast du deinen europäischen Charme lange genug versprüht. Sie ist mein Mädchen, und wir haben Hunger.«
Verdammt, Teddy ging ihr langsam auf die Nerven. Erst war sie ein Yuppie, jetzt sein
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