Ruhelos
Probleme?«
»Nein, nein«, sagte er und brachte unter Mühe ein glaubhaftes Lächeln zustande. »Nur ein paar Martinis zu viel letzte Nacht.«
Ein wenig verstört verließ sie sein Zimmer. Morris war bei der BSC – interessant, dass Angus Bescheid wusste. Hatte Morris ihm etwas erzählt? Ließ sich Angus’ ungewohnte Knurrigkeit damit erklären? Sie dachte weiter darüber nach, während sie ihre Condor-Story tippte und zu einem der Spanisch-Übersetzer brachte.
Zum Mittagessen kam sie erst später – in einem Automatenrestaurant auf der Seventh Avenue, wo sie ein Thunfisch-Sandwich, ein Stück Käsekuchen und ein Glas Milch auswählte. Was hatte Morris im Rockefeller Center zu suchen? Der Las-Cruces-Einsatz war natürlich in der BSC geplant worden … Sie aß ihr Sandwich und ging zum hundertsten Mal die Ereignisse durch, die zur Begegnung mit de Baca geführt hatten, um etwas zu finden, was ihr bisher entgangen war. Was war es, worauf Morris gestoßen war und sie nicht? Also: De Baca erschießt sie und sorgt dafür, dass ihre Leiche schnell gefunden wird. Die Karte wird entdeckt, zusammen mit etwa fünftausend Dollar. Welchen Eindruck würde das erwecken? Junge britische Agentin in New Mexico ermordet aufgefunden, im Gepäck eine verdächtige Landkarte. Das ganze FBI würde sich sofort fragen, was die BSC wieder ausgeheckt hatte. Eine hochgradig peinliche Angelegenheit mit vernichtender Wirkung – und ein netter Gegenschlag der deutschen Abwehr, wie ihr nun klar wurde. Eine britische Agentin bei der Verbreitung von Antinazipropaganda enttarnt. Aber wir machen doch nichts anderes als das, wenn wir nur die Chance bekommen, sagte sie sich, und jeder beim FBI weiß das. Was wäre also sensationell daran?
Aber mehrere Punkte störten das Bild. Niemand hatte je verlauten lassen, dass die deutsche Abwehr zu solchen Operationen in den USA imstande war, ein ganzes Geheimkommando von New York nach Las Cruces schicken konnte – dazu noch mit solchen Mitteln und Techniken ausgestattet, dass sie nichts davon bemerkt hatte. Dabei war sie äußerst vorsichtig gewesen – was ja auch zur Entdeckung der Krähen in Denver geführt hatte. Wie viele gehörten zu einem solchen Kommando? Sechs, acht Leute, die ständig ausgewechselt wurden, darunter auch ein paar Frauen? Sie hätte so etwas bemerkt, sagte sie sich. Aber stimmte das auch? In Las Cruces war sie ständig auf der Hut gewesen, und es ist äußerst schwer, ein misstrauisches Zielobjekt zu beschatten, aber sie musste zugeben, dass sie nie auf Frauen geachtet hatte. Dann wieder dachte sie: Warum war ich so misstrauisch? Habe ich unterschwellig gespürt, dass sich die Schlinge um mich zuzog? Sie brach ihre Überlegungen ab und beschloss, vorzeitig ins Trickfilmkino zu gehen. Ein bisschen Lachen konnte ihr nur guttun.
In der letzten Reihe des fast leeren Kinos wartete sie zwei Stunden auf Morris und sah dabei eine Abfolge von Trickfilmen mit Mickymaus, Daffy Duck, Tom und Jerry, die ab und zu durch die Wochenschau mit neuen Nachrichten vom europäischen Krieg unterbrochen wurden. »Die deutsche Kriegsmaschine kommt vor den Toren Moskaus zum Stehen«, verkündete der Sprecher mit dröhnender Penetranz. »General Winter übernimmt das Kommando.« Sie sah Pferde bis zum Widerrist im Morast versinken, der zäh und klebrig wirkte wie flüssige Schokolade, sie sah erschöpfte, ausgemergelte deutsche Soldaten, die sich zur Tarnung mit Laken umhüllten und steifbeinig von Haus zu Haus rannten; erfrorene Menschen im Schnee, die kaum noch von zerborstenen Bäumen oder verstreuten Trümmern zu unterscheiden waren; brennende Dörfer, in deren Feuerschein Tausende russische Soldaten vorwärts hasteten, quer über die Schneefelder zum Gegenangriff. Sie versuchte sich vorzustellen, was dort um Moskau geschah – Moskau, ihre Geburtsstadt, an die sie sich nicht mehr erinnern konnte –, und stellte fest, dass ihr Gehirn sich weigerte, irgendwelche Antworten zu liefern. Donald Duck übernahm das Kommando auf der Leinwand, zu ihrer Erleichterung. Die Leute fingen an zu lachen.
Als ihr klar wurde, dass sie vergebens auf Morris wartete, und sich das Kino langsam, aber sicher mit Leuten füllte, die von der Arbeit kamen, machte sie sich auf den Heimweg in ihr Apartment. Sie beschwichtigte sich mit der Tatsache, dass drei von vier solcher vereinbarten Treffs ins Wasser fielen – es war viel zu kompliziert und riskant, die jeweiligen Partner über Verspätungen oder Verschiebungen zu
Weitere Kostenlose Bücher