Ruhelos
Karte abzuschicken. Sie drehte die Karte um und las:
Liebste Lily, hoffe,
es steht alles zum Besten im regenreichen Perthshire. Wir sind für ein paar Tage ans Meer gefahren. Der junge Tom Dawlish hat übrigens letzte Woche geheiratet. Montagabend sind wir wieder zurück in Norwich.
Alles Liebe
Mum und Dad
Sie stellte die Karte zurück auf den Sims und musste plötzlich an ihren Vater und seine Flucht aus Paris denken. Die letzte Nachricht besagte, dass er in Bordeaux war – irgendwie war es Irène gelungen, einen Brief an sie nach London zu schmuggeln. »Von erträglicher Gesundheit in dieser unerträglichen Zeit«, hatte sie geschrieben.
Während Eva so dasaß, merkte sie, dass sie vor sich hin lächelte – ein Lächeln der Verblüffung angesichts der merkwürdigen Lage, in der sie sich befand. Sie saß in ihrem Zufluchtsquartier in Battersea und gab sich als Lily Fitzroy aus. Was würde ihr Vater sagen, wenn er von ihrer Tätigkeit für die »britische Regierung« hörte? Was hätte Kolja gedacht?
Mrs Dangerfield wusste nur, dass Lily Fitzroy bei den »Funkern« war, fürs Kriegsministerium arbeitete, viel reisen musste und immer mehr Zeit in Schottland und Nordengland verbrachte. Die Miete erhielt sie drei Monate im Voraus, und diese Regelung fand sie ideal. In den vier Monaten seit ihrem Einzug hatte Eva nur sechsmal in der Winchester Street übernachtet.
Sie klappte eine Ecke des Teppichs hoch, entnahm ihrer Tasche einen kleinen Schraubenzieher und hebelte ein paar lockere Nägel in den Dielen heraus. Unter dem losen Dielenbrett lag ein kleines, in Wachstuch gewickeltes Bündel, das den auf Lily Fitzroy ausgestellten Pass enthielt, eine Taschenflasche Whisky und drei Fünfpfundnoten. Sie fügte eine weitere Fünfpfundnote hinzu und stellte das Versteck wieder her. Dann legte sie sich aufs Bett, um ein Stündchen zu schlafen. Sie träumte, dass Kolja hereinkam und ihr die Hand auf die Schulter legte. Als sie mit einem Ruck hochfuhr, sah sie, dass sich ein schmaler Streifen Nachmittagssonne durch die Gardine stahl und ihren Nacken wärmte. Sie schaute in den Schrank, suchte ein paar Kleider aus und schob sie zusammengelegt in eine Tragetasche aus Papier, die sie mitgebracht hatte.
Beim Verlassen des Zimmers dachte sie über den Sinn oder gar die Notwendigkeit eines »sicheren« Quartiers nach. Es entsprach ihrer Ausbildung; so hatte sie es gelernt: eine sichere Bleibe zu unterhalten, ohne Verdacht zu erwecken. Der heimliche Unterschlupf – eine von Romers Regeln. Ihr Leben wurde mehr und mehr von diesen besonderen Verhaltensmaßregeln beherrscht. Sie schaltete das Licht aus und trat hinaus auf die Treppe – vielleicht lernte sie heute Abend noch ein paar neue.
»Bye, Mrs Dangerfield«, rief sie fröhlich. »Ich muss schon wieder los, für eine oder zwei Wochen.«
Am Abend kleidete sich Eva mit mehr Sorgfalt und Bedacht als sonst. Sie wusch ihr Haar, rollte die Spitzen ein und beschloss, Romer mit einer losen Frisur zu überraschen. Nach Art von Veronica Lake schob sie eine Locke über ihr Auge, entschied aber dann, dass dies zu weit ging. Schließlich wollte sie den Mann nicht verführen. Nein, sie wollte nur, dass er sie stärker zur Kenntnis nahm, sie auf eine andere Art wahrnahm. Mochte er denken, dass er nur eine seiner Untergebenen zum Essen ausführte, aber sie wollte ihm deutlich machen, dass nicht viele seiner Unterge benen so aussahen wie sie. Das war ausschließlich eine Frage des Selbstwertgefühls und hatte nicht das Geringste mit Romer zu tun.
Sie legte Lippenstift auf – einen neuen, der Tahiti Nights hieß –, puderte ihr Gesicht und tupfte Rosenwasser auf ihre Handgelenke und hinter die Ohren. Sie trug ein leichtes dunkelblaues Baumwollkleid mit gerafften maisgelben Einsätzen und einem Schärpengürtel, der ihre schlanke Taille betonte. Ihre Brauen waren zu makellosen Bögen gezupft und von perfektem Schwarz. Sie steckte Zigaretten, Feuerzeug und Börse in ihre Handtasche aus Binsengeflecht mit Muschelbesatz, warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel und entschied sich endgültig gegen Ohrclips.
Als sie die Treppe des Wohnheims hinabstieg, warteten ein paar der Mädchen vor der Telefonzelle im Foyer. Sie verbeugte sich, als sie ihr mit spöttischer Bewunderung nachpfiffen.
»Wer ist der Glückliche, Eve?«
Sie lachte. Romer war der Glückliche: Er hatte ja keine Ahnung, was für ein Glück er hatte.
Der Glückliche kam zu spät, um zwanzig Uhr
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