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Ruhelos

Ruhelos

Titel: Ruhelos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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alle in die USA gehen.«

6
Ein Mädchen aus Deutschland
    Am Samstagmorgen fuhr ich mit Jochen in die Stadt, ins Westgate Shopping Centre – eins der typischen Einkaufszentren, ein Betonkoloss, hässlich, aber praktisch, wie solche Einrichtungen eben sind –, um ihm einen neuen Pyjama zu kaufen (da er bei seiner Großmutter übernachten sollte) und die vorletzte Leasingrate für den Herd zu bezahlen, den ich mir im Dezember angeschafft hatte. Wir parkten in der Broad Street und liefen die Cornmarket Street hinauf, wo die Geschäfte gerade öffneten, und obwohl es wieder ein schöner, aber heißer Tag zu werden versprach, lag ein wenig Frische in der Morgenluft, wie mir schien – oder war es nur Wunschdenken, ein frommer Selbstbetrug, mit dem ich mich vor der Einsicht schützte, dass ich diese Hitze längst satthatte? Die Straßen waren gefegt, die Papierkörbe geleert, und das von Bussen und Touristen verstopfte Chaos, in das sich die Straße jeden Samstag verwandelte, würde noch eine Stunde auf sich warten lassen.
    Jochen zog mich zurück zum Schaufenster eines Spielzeugladens.
    »Guck mal, Mummy. Die finde ich toll.«
    Er zeigte auf irgendeine Space-Gun aus Plastik und voller Glitzer und Schnickschnack.
    »Krieg ich die zum Geburtstag?«, begann er zu bohren. »Zum Geburtstag und zu Weihnachten?«
    »Nein. Ich hab schon ein wunderschönes neues Lexikon für dich.«
    »Du machst wieder Spaß«, sagte er streng. »Mach nicht solche Späße mit mir.«
    »Ein bisschen Spaß muss sein im Leben«, sagte ich, nahm ihn bei der Hand und bog in die Queen Street ein. »Wozu ist es sonst gut?«
    »Das hängt vom Spaß ab«, sagte er. »Manche Späße sind nicht lustig.«
    »Na gut. Du kriegst die Kanone. Und das Lexikon schicke ich einem kleinen Jungen in Afrika.«
    »Welchem kleinen Jungen?«
    »Der wird sich schon finden. Dort gibt es Massen von kleinen Jungen, die sich über ein Lexikon freuen würden.«
    »Sieh mal, da ist Hamid.«
    Die Queen Street endete an einem kleinen Platz mit Obelisk. Um die Jahrhundertwende als bescheidene Anlage im neueren Teil von Oxford entstanden, diente er seit der Modernisierung nur noch als eine Art Vorhof oder Zugang zum gähnenden Schlund des Westgate Centre. Auf den Stufen des Denkmals (für einen vergessenen Soldaten irgendeines Kolonialgemetzels) hingen jetzt die Schnüffel-Punks herum, doch der Platz war ein beliebter Ausgangs- oder Endpunkt für Demos. Die Punks, die Straßenmusikanten, die Bettler liebten ihn, Hare-Krischna-Jünger klimperten mit ihren Glöckchen und sangen, Heilsarmee-Kapellen spielten zur Weihnachtszeit ihre Weihnachtslieder. Ich musste anerkennen, dass dieser unscheinbare Platz vermutlich der lebendigste und bunteste Ort von Oxford war.
    Heute fand dort eine kleine Demo von Iranern statt – Studenten und Emigranten, wie ich vermutete –, eine Gruppe von etwa dreißig, die sich unter Transparenten wie »Nieder mit dem Schah«, »Es lebe die Iranische Revolution« zusammenscharte. Zwei bärtige Teilnehmer versuchten, Passanten zu einer Unterschriftenliste zu locken, ein Mädchen mit Kopftuch und Megaphon zählte in einem schrillen Singsang die Schandtaten der Pahlevi-Familie auf. Ich folgte Jochens Zeigefinger und sah Hamid ein Stück entfernt hinter einem geparkten Auto stehen. Er machte Fotos von der Demo.
    Wir gingen zu ihm hinüber.
    »Hamid!«, schrie Jochen, und Hamid drehte sich um, sichtlich überrascht, dann erfreut, als er sah, wer ihn da begrüßte. Er hockte sich vor Jochen und reichte ihm die Hand, die Jochen mit ziemlichem Eifer schüttelte.
    »Mr Jochen«, sagte er. »Salaam alaikum.«
    »Alaikum salaam«, erwiderte Jochen geübt.
    Hamid strahlte ihn an, dann erhob er sich und wandte sich an mich. »Ruth. Wie geht es Ihnen?«
    »Was machen Sie hier?«, fragte ich abrupt, plötzlich misstrauisch geworden.
    »Ich fotografiere.« Er hielt den Apparat hoch. »Das da sind alles Freunde von mir.«
    »Oh. Ich würde eher annehmen, dass sie nicht fotografiert werden wollen.«
    »Warum nicht? Das ist eine friedliche Demonstration gegen den Schah. Seine Schwester kommt nach Oxford, um eine Bibliothek zu eröffnen, für die sie bezahlt haben. Warten Sie ab – das wird eine große Demonstration. Sie müssen unbedingt kommen.«
    »Darf ich auch?«, fragte Jochen.
    »Natürlich.« Dann drehte er sich um, weil jemand nach ihm rief.
    »Ich muss los«, sagte er. »Wir sehen uns heute Abend, Ruth. Soll ich ein Taxi besorgen?«
    »Nein, nein«, erwiderte ich.

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