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Ruhelos

Ruhelos

Titel: Ruhelos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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breitete die Hände aus. »Und da bin ich nun.«
    »Wie lange waren Sie in Deutschland?«
    »Fast vier Jahre. Im Januar ’75 kam ich zurück.«
    »Haben Sie versucht, diesen Karl-Heinz wiederzusehen?«
    »Nein. Ich werde ihn wohl nie wiedersehen. Ich will es nicht, ich brauche es nicht, es ist aus und vorbei.«
    »Vielleicht will Jochen ihn sehen.«
    »Ich hab nichts dagegen.«
    Hamid zog die Stirn kraus, in ihm arbeitete es, er versuchte, die Ruth, die er kannte, mit dieser anderen Ruth in Einklang zu bringen. Ich jedenfalls war froh, dass ich ihm meine Geschichte auf diese Weise erzählt hatte; jetzt erkannte auch ich ihre Umrisse, ich sah, dass sie zu Ende war.
    Er zahlte die Rechnung, wir verließen das Restaurant und schlenderten durch die schwülwarme Nacht. Endlich befreite sich Hamid von Jackett und Krawatte.
    »Und Ludger?«
    »Ludger tauchte immer wieder mal auf. Er war häufig in Berlin – und ziemlich durchgedreht. Er nahm Drogen, stahl Motorräder. Ständig hatten sie ihn beim Wickel. Karl-Heinz boxte ihn dann heraus, und er ging zurück nach Berlin.«
    »Was für eine traurige Geschichte«, sagte Hamid. »Das war ein schlechter Mensch, in den Sie sich verliebt haben.«
    »Na, so schlimm war es auch wieder nicht. Er hat mir eine Menge beigebracht. Ich veränderte mich. Sie würden nicht glauben, wie ich war, als ich nach Hamburg ging. Schüchtern, nervös, ohne Selbstvertrauen.«
    Er lachte. »Nein – das glaube ich nicht.«
    »Es stimmt aber. Danach war ich ein anderer Mensch. Karl-Heinz hat mir etwas Wichtiges beigebracht: Er brachte mir bei, meine Angst zu beherrschen, furchtlos zu sein. Dank ihm kann mir keiner mehr Angst einjagen. Polizisten, Richter, Skinheads, Oxford-Dons, Dichter, Parkwächter, Intellektuelle, Hooligans, Langweiler, Zicken, Schuldirektoren, Anwälte, Journalisten, Betrunkene, Politiker, Prediger …« Mir fielen keine Leute mehr ein, die mir keine Angst einjagen konnten. »Das war eine wertvolle Lektion.«
    »Das denke ich auch.«
    »Er sagte immer, dass alles, was man tut, dazu beitragen soll, den großen Mythos zu zerstören – den Mythos des allmächtigen Systems.«
    »Ich verstehe nicht.«
    »Dass unser ganzes Leben in jedem Punkt eine Art Propaganda-Aktion darstellen soll, um diesen Mythos als Lüge und Illusion zu entlarven.«
    »So wird man zum Verbrecher.«
    »Nein, nicht unbedingt. Bei manchen war es so – sehr wenigen. Aber es ist etwas dran, denken Sie drüber nach. Niemand muss vor etwas oder jemandem Angst haben. Der Mythos vom allmächtigen System ist ein Schwindel, er ist hohl.«
    »Gehen Sie doch in den Iran. Erzählen Sie das dem Schah.«
    Ich lachte. Wir hatten unsere Einfahrt in der Moreton Road erreicht. »Da könnten Sie recht haben«, sagte ich. »Wahrscheinlich ist es hier im guten alten Oxford leicht, keine Angst zu haben.« Ich blickte ihn an und dachte: Ich bin besoffen, ich hab zu viel getrunken, ich rede zu viel. »Danke, Hamid. Es war sehr schön mit Ihnen«, sagte ich. »Ich hab mich bestens amüsiert. Ich hoffe, es war nicht langweilig für Sie.«
    »Nein, es war wundervoll, faszinierend.«
    Er beugte sich schnell vor und küsste mich auf den Mund. Ich spürte seinen weichen Bart in meinem Gesicht, bevor ich ihn wegschieben konnte.
    »Hey. Hamid, nein …«
    »Ich stelle Ihnen all diese Fragen, weil ich Ihnen etwas sagen muss.«
    »Nein, Hamid, bitte nicht. Wir sind Freunde. Das haben Sie selbst gesagt.«
    »Ich liebe Sie, Ruth.«
    »Nein, das tun Sie nicht. Gehen Sie schlafen. Wir sehen uns am Montag.«
    »Es ist aber so, Ruth. Es tut mir leid.«
    Ich sagte nichts mehr, ließ ihn auf dem Kiesweg stehen und lief am Haus entlang zur Hintertreppe. Der Wein war mir so zu Kopf gestiegen, dass ich wankte, ich musste stehen bleiben und mich an der Mauer festhalten, um nicht die Balance zu verlieren. Gleichzeitig versuchte ich die zunehmende Verwirrung zu ignorieren, die Hamids Erklärung in meinem Kopf anrichtete. Ein wenig aus dem Gleichgewicht geraten, verfehlte ich die unterste Treppenstufe und stieß so heftig mit dem Schienbein gegen das Geländer, dass mir die Tränen in die Augen schossen. Vor mich hin fluchend, humpelte ich die Eisentreppe hinauf. In der Küche angekommen, zog ich das Hosenbein hoch und sah kleine Blutströpfchen aus der aufgeschürften Haut quellen, und schon bildete sich eine dunkel anlaufende Schwellung – ich blutete unter der Haut. Mein Schienbein pochte und summte wie eine wild gewordene Stimmgabel – hatte ich mir

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