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Ruhelos

Ruhelos

Titel: Ruhelos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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Geschichte in einen Lebenszusammenhang einzuordnen; nicht in ihrer Bedeutsamkeit zu mindern (schließlich hatte ich ihr Jochen zu verdanken), sondern ihrer Bedeutsamkeit eine Art Perspektive zu verleihen und damit eine klaffende, blutende seelische Wunde in ein Stück normaler Biographie zu verwandeln. Ich steckte mir eine Zigarette an und nahm einen weiteren großen Schluck. Hamid beugte sich vor, mit verschränkten Armen, und richtete seine braunen Augen auf mich. Ich bin ein guter Zuhörer, sagte er mir mit dieser Pose – volle, ungeteilte Aufmerksamkeit.
    »Alles fing 1970 an«, begann ich. »Ich war gerade mit dem Studium fertig, hatte einen Oxford-Abschluss mit Bestnote in Französisch und Deutsch, das Leben lag vor mir, voller Verheißungen, interessanter Möglichkeiten und so weiter und so weiter … Da passierte das mit meinem Vater. Er fiel tot um, in seinem Garten. Herzinfarkt.«
    »Das tut mir leid«, sagte Hamid.
    »Wohl kaum so wie mir«, erwiderte ich und merkte, wie sich bei dieser Erinnerung meine Kehle zuschnürte. »Ich habe meinen Dad geliebt – mehr als meine Mutter, glaube ich. Vergessen Sie nicht, dass ich ein Einzelkind bin … Ich war also einundzwanzig Jahre alt und drehte ein bisschen durch. Vielleicht war das eine Art Nervenzusammenbruch, wer weiß? Aber meine Mutter hat mir in dieser schwierigen Lage nicht beigestanden, denn eine Woche nach der Beerdigung – fast wie auf Befehl – bot sie unser Haus zum Verkauf an (eine wunderschöne alte Villa außerhalb von Banbury). Nach einem Monat war sie es los, und sie kaufte von dem Geld ein Cottage im abgelegensten Dorf, das sie in Oxfordshire finden konnte.«
    »Vielleicht war es für sie eine sinnvolle Lösung«, wagte sich Hamid vor.
    »Möglich. Aber nicht für mich. Plötzlich hatte ich kein Zuhause mehr. Das Cottage gehörte ihr. Es hatte zwar ein Gästezimmer, das ich benutzen konnte, wann immer ich wollte, aber die Botschaft war klar: Unser Leben als Familie ist vorüber, dein Vater ist tot, du hast deinen Abschluss, bist einundzwanzig Jahre alt, also gehen wir getrennte Wege. Und so beschloss ich, nach Deutschland zu gehen. Ich nahm mir vor, eine Dissertation über die deutsche Revolution nach dem Ersten Weltkrieg zu schreiben. ›Revolution in Deutschland 1918-1923‹ hieß sie – heißt sie.«
    »Warum?«
    »Ich weiß nicht. Ich war vielleicht ein bisschen durchgedreht, das sagte ich ja. Die Revolution jedenfalls lag in der Luft. Ich musste mein Leben revolutionieren, hatte ich das Gefühl. Die Gelegenheit bot sich, und ich griff mit beiden Händen zu. Ich wollte weg – von Banbury, von Oxford, von meiner Mutter, von den Gedanken an meinen Vater. Also ging ich an die Uni Hamburg, um zu promovieren.«
    »Hamburg.« Hamid wiederholte den Namen, als wollte er ihn in seinem Gedächtnis verankern. »Und dort haben Sie Jochens Vater getroffen.«
    »Ja. Jochens Vater war mein Professor in Hamburg. Für Geschichte. Professor Karl-Heinz Kleist. Er betreute meine Arbeit – unter anderem. Außerdem moderierte er Kultursendungen im Fernsehen, organisierte Demos, veröffentlichte radikale Pamphlete, schrieb für DIE ZEIT, über die Krise der Weimarer Republik … Ein Mann mit vielen Facetten. Und sehr beschäftigt.«
    Ich drückte Zigarette Nummer eins aus und zündete Zigarette Nummer zwei an.
    »Sie müssen verstehen«, fuhr ich fort. »Deutschland war in einem merkwürdigen Zustand damals, 1970, und ist es 1976 immer noch. Die Gesellschaft wurde von einer Art Aufruhr erfasst – einem Selbstfindungsprozess gewissermaßen. Zum Beispiel, als ich Karl-Heinz zum ersten Mal besuchte, im Unigebäude, wo er sein Büro hatte, hing ein riesiges handgemaltes Transparent quer über die Fassade, aufgehängt von Studenten, auf dem stand: ›Institut für soziales Gewissen‹ … nicht ›Historische Fakultät‹ oder was immer. Für diese Studenten von 1970 war Geschichte das Studium ihres sozialen Gewissens …«
    »Und was heißt das?«
    »Sie wollten damit zum Ausdruck bringen, wie die Vorgänge der Vergangenheit, besonders der jüngsten Vergangenheit, ihr Selbstbild geprägt hatten. Es hatte wenig mit den dokumentierten Fakten zu tun, mit der Bildung eines Konsenses darüber, wie man das Vergangene darstellbar macht …«
    Ich sah, dass mir Hamid nicht folgen konnte, doch jetzt nahm mich die Erinnerung an diese erste Begegnung mit Karl-Heinz gefangen. Sein düsteres Zimmer war angefüllt mit Bücherstapeln, die an der Wand lehnten, Regale gab es

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