Ruhig Blut!
Gestalt im Großen Saal war ihm müde und ausgelaugt erschienen. Himmelwärts erinnerte sich an das Pflegeheim in Aby Dyal, an steife, in sich selbst zurückgezogene Kranke, die litten, bis der Schmerz zu groß wurde, bis ihnen nur noch Gebete blieben und dann nicht einmal mehr die… Alles deutete darauf hin, daß die Alte jetzt diese Phase erreicht hatte.
Sie rührte sich nicht von der Stelle. So eine Reglosigkeit hatte Himmelwärts nur dann gesehen, wenn Bewegungen nicht mehr im Bereich des Möglichen lagen.
Den Berg hinauf und ins Tal hinab liefen die Wir-sind-die-Größten. Für List und Schläue schien in ihrem Denken kein Platz zu sein. Sie kamen jetzt ein wenig langsamer voran, denn einige von ihnen entfernten sich immer wieder von der Hauptgruppe, um untereinander zu kämpfen oder eine Jagd zu improvisieren. König Verence hatte inzwischen Gesellschaft bekommen. Nicht nur er wurde durchs Heidekraut getragen, sondern auch ein Fuchs, ein betäubter Hirsch, ein Keiler und ein Wiesel, das im Verdacht stand, einen Wir-sind-die-Größten auf seltsame Weise angesehen zu haben.
Verence stellte benommen fest, daß sie sich einem Wall am Ende einer Wiese näherten. Er war längst mit uralten Dornbüschen überwuchert.
Die Kobolde hielten abrupt inne, als der Kopf des Königs nur noch wenige Zentimeter von einem Kaninchenbau entfernt war.
»Paßt nicht rein!«
»Ordentlich schieben?«
Verences Kopf wurde einige Male hoffnungsvoll gegen weichen Boden gestoßen.
»So klappt’s nicht!«
»Wenn’s nicht geht, geht’s eben nicht.« Ein Kobold schüttelte den Kopf. »Wir müssen uns was einfallen lassen. Sonst macht die Dicke Strumpfbänder aus unseren Gedärmen…«
Daraufhin geschah etwas Ungewöhnliches: Die Wir-sind-die-Größten schwiegen einen Moment. Dann sagte einer von ihnen: »Ich fürchte, dazu wäre sie tatsächlich fähig.«
»Und außerdem wird sie uns allen ganz gewaltig das Fell über die Ohren ziehen, jawohl. Wenn sich die Dicke ärgert, fliegen die Fetzen.« »Dann sollten wir uns an die Arbeit machen…«
Verence sank auf den Boden. Gewisse Geräusche deuteten darauf hin, daß in der Nähe gegraben wurde, und Schlamm spritzte über ihn hinweg. Kurze Zeit später wurde er wieder hochgehoben und durch eine wesentlich größere Öffnung getragen. Die königliche Nase kratzte über Baumwurzeln, die aus der Decke ragten. Hinter ihm verrieten andere Geräusche, daß der Tunnel schnell wieder aufgefüllt wurde.
Dann war nur noch ein von Dornbüschen bewachsener Wall zu sehen, in dem Kaninchen wohnten. Hier und dort kräuselten sich kleine Rauchfahnen empor, aber in der dunklen, regnerischen Nacht fielen sie überhaupt nicht auf.
Agnes lehnte sich an die Schloßwand, über die Regenwasser strömte, und schnappte nach Luft. Sie war von Oma Wetterwachs nicht nur aufgefordert worden zu gehen – der Befehl hatte ihr Gehirn wie ein Eimer mit Eiswasser getroffen. Selbst Perdita hatte es ganz deutlich gespürt. Einer solchen Anweisung konnte man sich unmöglich widersetzen.
Wohin war Nanny verschwunden? Agnes verspürte den dringenden Wunsch, in ihrer Nähe zu sein. Nanny Ogg blieb permanent in ein Eswird-alles-gut-Feld gehüllt. Wenn es ihr gelungen war, die Küche zu durchqueren, konnte sie praktisch überall sein…
Sie hörte, wie eine Kutsche durchs Tor rumpelte, das zu den Ställen führte, nicht mehr als ein Schemen in Regen und Dunkelheit, als sie übers Kopfsteinpflaster des Hofes rollte. Neben dem Kutscher saß eine Gestalt, die sich einen Sack über den Kopf hielt, um einigermaßen vor Wind und Regen geschützt zu sein. Vielleicht war es Nanny. Eigentlich spielte es keine Rolle. Niemand hätte Agnes gesehen, wenn sie winkend durch die Pfützen gelaufen wäre.
Sie stapfte zum Tor zurück, als die Kutsche ihre Fahrt über den Hügelhang fortsetzte und außer Sicht geriet. Nun, sie hatten versucht zu entkommen. Und die Kutsche einer Vampir-Familie zu stehlen… Das war ganz Nanny Oggs Stil…
Jemand griff von hinten nach ihren Armen. Aus einem Reflex heraus versuchte Agnes mit den Ellenbogen zuzustoßen. Genausogut hätte sie versuchen können, einen Felsen beiseite zu schieben.
»Nun, Fräulein Nitt«, sagte Vlad kühl, »wie wär’s mit einem kleinen Spaziergang im Regen?«
»Sie sind dir entwischt!« schnappte Agnes.
»Glaubst du?« erwiderte der Vampir. »Mein Vater könnte die Kutsche jederzeit in eine Schlucht stürzen lassen, wenn er wollte. Aber er will nicht. Ihm ist die direkte,
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