Ruhig Blut!
wie alle ande-
ren Lebensformen auch. Hilf mir hoch, Herr Himmelwärts. Wie viele
Vögel befinden sich in deinem Hort, Festgreifaah?«
Der Falkner blickte kurz auf seine Finger.
»Fünfzig.«
»Hast du sie kürzlich gezählt?«
Sie beobachteten ihn, während er von Pfahl zu Pfahl ging. Sie schwie-
gen und beobachteten ihn weiter, als er umkehrte und noch einmal zähl-
te. Anschließend verbrachte er einige Zeit damit, auf seine Finger zu
starren.
»Einundfünfzig?« fragte Oma.
»Ich verstehe das nicht, Frau Wetterwachs.«
»Du sol test sie besser nach den einzelnen Arten zählen.«
Das ergab neunzehn Müde Sorgentröpfe, obwohl es eigentlich nur
achtzehn sein sollten.
»Viel eicht ist einer hereingeflogen, weil er die anderen gesehen hat«,
spekulierte Himmelwärts. »Wie bei Tauben.«
»So funktioniert das nicht«, erwiderte der Falkner.
»Einer von ihnen ist nicht angebunden«, sagte Oma. »Da bin ich ganz
sicher.«
Nur wenige Vögel saßen ruhiger und geduldiger als der Sanfte Falke
von Lancre, auch Müder Sorgentropf genannt. Er war ein Fleischfresser,
der ständig nach vegetarischem Angebot Ausschau hielt. Die meiste Zeit
verbrachte er damit, einfach nur zu schlafen. Wenn ihn die Umstände
zwangen, Nahrung zu suchen, saß er an irgendeiner windgeschützten
Stelle auf einem Zweig und wartete darauf, daß etwas starb. Im Vogel-
hort hockten die Sorgentröpfe zunächst genauso da wie die anderen Vö-
gel. Aber es dauerte nie lange, bis sie einnickten, sich mit fest um die
Sitzstangen geschlossenen Kral en zur Seite neigten und schließlich nach
unten hängend schlummerten. Festgreifaah züchtete diese Vögel, weil es
sie nur in Lancre gab und er ihr Gefieder hübsch fand. Doch al e Falk-
ner, die etwas auf sich hielten, vertraten folgenden Standpunkt: Bei der
Jagd mit einem Sanften Falken konnte man nur dann auf Beute hoffen,
wenn man ihn in eine Schleuder spannte.
Oma streckte die Hand danach aus.
»Ich hole dir einen Handschuh«, bot sich Festgreifaah an, aber die alte
Hexe winkte ab.
Der Vogel hüpfte auf ihr Handgelenk.
Oma Wetterwachs schnappte nach Luft. Einige Sekunden tanzte grü-
nes und blaues Licht wie von brennendem Sumpfgas über ihren Arm.
»Ist alles in Ordnung mit dir?« fragte Himmelwärts.
»Es ging mir nie besser. Ich brauche diesen Vogel, Festgreifaah.«
»Es ist dunkel, Frau Wetterwachs.«
»Das spielt keine Rolle. Aber er sollte eine Haube bekommen.«
»Oh, Sanfte Falken statte ich nie mit Hauben aus, Frau Wetterwachs.
Sie machen keine Probleme.«
»Dieser Vogel… dieser Vogel…«, sagte Oma. »Ich schätze, dieser Vogel ist ein Vogel, den noch nie jemand gesehen hat. Gib ihm eine Haube.«
Festgreifaah zögerte. Er erinnerte sich an den Kreis aus verbrannter
Erde und ein Geschöpf, das nach der richtigen Gestalt suchte, um zu
überleben…
»Es ist doch ein Sanfter Falke, oder?«
»Was veranlaßt dich, diese Frage zu stellen?« erwiderte Oma langsam.
»Immerhin bist du hier der Falkner.«
»Was ich im Wald gesehen habe…«
»Was hast du im Wald gesehen, Festgreifaah?«
Der Falkner gab auf, als ihn Omas Blick durchbohrte.
Wenn er an seinen Versuch dachte, einen Phönix zu fangen ! Bei den anderen Vögeln konnte es schlimmstenfal s geschehen, daß er ein wenig
Blut verlor. Angenommen, der Phönix hätte auf seinem Arm gesessen…
Er verspürte plötzlich den brennenden Wunsch, diesen Vogel loszuwerden.
Seltsamerweise wirkten die anderen Vögel ganz und gar nicht beunru-
higt. Al e mit Hauben ausgestatteten Köpfe waren dem kleinen Ge-
schöpf auf Omas Handgelenk zugewandt – obwohl sie es gar nicht sehen
konnten.
Festgreifaah griff nach einer weiteren Haube, stülpte sie dem kleinen
Vogel über den Kopf und glaubte, ein kurzes goldenes Gleißen darunter
zu sehen.
Er beschloß, daß es ihn nichts anging. Über viele Jahre hinweg hatte er
glücklich und zufrieden im Schloß überlebt, weil er genau wußte, was ihn
etwas anging und was nicht. Jetzt war er plötzlich ganz sicher, daß diese
besondere Angelegenheit nicht in seinen Zuständigkeitsbereich fiel, herz-
lichen Dank.
Oma Wetterwachs atmete einige Male tief durch.
»In Ordnung«, sagte sie. »Und jetzt gehen wir zum Schloß.«
»Was?« fragte Himmelwärts. »Warum denn?«
»Meine Güte, warum wohl?«
»Die Vampire sind fort«, sagte der Priester. »Sie haben sich auf den
Weg gemacht, während du… dich erholt hast. Herr Festgreif…aah hat es
herausgefunden.
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