Ruhig Blut!
stehengeblieben«, sagte sie.
»Sie zeigt nicht einmal die richtige Zeit an«, stellte Agnes mit einem
Blick aufs Zifferblatt fest.
»Oh, Esme hörte sie nur gern ticken.«
Agnes legte die Glaskugel auf den Tisch.
»Ich sehe mich noch einmal um.«
Sie hatte gelernt, sich aufmerksam umzusehen, wenn sie jemanden be-
suchte, denn in gewisser Weise war das Zuhause wie ein Fenster, das
einen Blick ins Denken und Empfinden der betreffenden Personen ge-
währte. Viel eicht besuchte man jemanden, der von einem erwartete, al es
über al es zu wissen, und dann mußte man jeden Vorteil nutzen.
Jemand hatte einmal gesagt, die Hütte einer Hexe sei ihr Zweites Ge-
sicht. Als Agnes genauer darüber nachdachte, fiel ihr ein, daß die Worte
von Oma Wetterwachs stammten.
Es sol te nicht weiter schwierig sein, einen Eindruck von diesem Ort
zu gewinnen. Omas Gedanken zeichneten sich durch die Kraft von
Hammerschlägen aus und hatten ihre Persönlichkeit in die Wände ge-
stanzt. Wäre diese Hütte noch organischerer Natur gewesen, hätte sie
einen Puls bekommen.
Agnes wanderte durch die kleine, feuchte Spülküche. Der kupferne
Waschtopf war gründlich gescheuert worden. Eine Gabel und zwei glän-
zende Löffel lagen daneben, zusammen mit einem Waschbrett und einer
Bürste. Der fürs Schmutzwasser bestimmte Eimer glänzte ebenfal s, ob-
wohl die darin liegenden Reste einer zerbrochenen Tasse deutlich mach-
ten, daß die intensive Hausarbeit nicht ohne Verluste geblieben war.
Sie öffnete die Tür des alten Ziegenschuppens. Derzeit hielt Oma kei-
ne Ziegen, aber auf einer Bank lagen ordentlich aufgereiht ihre selbst
angefertigten Imker-Werkzeuge. In dieser Beziehung hatte sie nie viel
benötigt. Wenn man Rauch und einen Schleier brauchte, um mit Bienen
umzugehen, dann taugte man nicht viel als Hexe.
Bienen…
Wenige Sekunden später war Agnes draußen im Garten und lauschte
an einem Bienenstock.
So früh am Tag flogen noch keine Bienen, aber im Innern des Stocks
herrschte ziemlicher Lärm.
»Bestimmt wissen sie Bescheid«, erklang eine Stimme hinter ihr. Agnes
stand so plötzlich auf, daß sie mit dem Kopf gegen das Dach des Bie-
nenstocks stieß.
»Aber von ihnen bekommst du keine Auskunft«, fügte Nanny hinzu.
»Esme hat sie zweifellos aufgefordert, nichts zu verraten. Trotzdem gut,
daß du an die Bienen gedacht hast.«
Etwas schnatterte auf einem nahen Zweig – eine Elster.
»Guten Morgen, Herr Elster«, sagte Agnes automatisch. »Verschwinde,
du Mistvieh.« Nanny griff nach einem Stock, um damit zu werfen. Der
Vogel stieg auf und flog zur gegenüberliegenden Seite der Lichtung.
»Das bringt Pech«, meinte Agnes.
»Ja, und zwar für die Elster, wenn ich Gelegenheit zum Zielen habe«,
sagte Nanny. »Ich kann die verdammten Biester nicht ausstehen.«
»›Eine für Kummer‹«, zitierte Agnes und beobachtete, wie der Vogel
über einen Ast hüpfte.
»Ich habe immer den Eindruck, daß sie nie allein kommen«, sagte
Nanny und ließ den Stock fal en.
»›Zwei für die Freud’?‹« fragte Agnes.
»Nein, ›zwei für Vergnügen‹.«
»Das läuft aufs gleiche hinaus.«
»Keine Ahnung«, erwiderte Nanny. »Ich habe mich gefreut, als unser
Jason geboren wurde, aber ich kann nicht behaupten, daß ich zu diesem
Zeitpunkt gelacht habe. Komm, laß uns noch einen Rundgang machen.«
Zwei weitere Elstern landeten auf dem uralten Strohdach.
»Damit hätten wir ›drei für die Freundin‹…«, sagte Agnes nervös.
»In der Version, die ich gelernt habe, heißt es ›drei für die Särge‹«,
meinte Nanny. »Aber es gibt viele Elstern-Verse. Ich schlage vor, du
nimmst den Besen und siehst dir die Gegend in Richtung der Berge an.
Was mich betrifft…«
»Warte mal«, sagte Agnes.
Perdita schrie in ihr und verlangte Aufmerksamkeit. Sie hörte zu.
Drei… Drei Löffel. Drei Messer. Drei Tassen.
Die zerbrochene Tasse weggeworfen…
Agnes stand völ ig reglos. Sie fürchtete, daß etwas Schreckliches pas-
sierte, wenn sie sich bewegte oder auch nur atmete.
Die stehengebliebene Uhr…
»Nanny?«
Nanny Ogg war klug genug zu wissen, daß etwas geschah. Sie verlor
keine Zeit mit dummen Fragen.
»Ja?« erwiderte sie.
»Bitte geh in die Hütte und sieh nach, wann die Uhr stehengeblieben
ist.«
Nanny nickte und stapfte fort.
Die Anspannung in Agnes’ Kopf dehnte sich und verursachte dabei
das gleiche Geräusch wie eine Bogensehne, an der jemand zupfte. Es
erstaunte sie, daß
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