Ruht das Licht
war eine Collage aus roten Rücklichtern, Autobahnschildern, die plötzlich aus dem Dunkel auftauchten und ebenso schnell wieder verschwanden, meiner Stimme, die aus den Lautsprechern und meinem Mund zugleich kam, und Grace’ Gesicht, immer wieder flackernd erhellt durch die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos.
Grace’ Augen waren vor Müdigkeit halb geschlossen, ich hingegen fühlte mich, als würde ich nie wieder schlafen. Es war, als wäre dies der letzte Tag auf Erden und ich müsste ihn wach erleben. Ich hatte ihr das von Cole schon erzählt – wer er war –, aber ich hatte das Gefühl, dazu war noch nicht alles gesagt. Vielleicht ging ich Grace ja auch auf die Nerven, aber sie war so nett, nichts zu sagen. »Ich wusste doch, er kommt mir bekannt vor«, wiederholte ich. »Ich versteh einfach nicht, warum Beck so was macht.«
Grace zog die Hände in ihre Pulloverärmel zurück und hielt die Enden von innen zu. Im Licht des Radiodisplays wirkte ihre Haut bläulich. »Vielleicht wusste Beck ja gar nicht, wer er war. Ich meine, ich weiß auch nur so ungefähr, wer NARKOTIKA sind. Ich kenne gerade mal einen Song von ihnen, irgendwas mit ›Break my face‹ oder was weiß ich.«
»Aber er muss doch was geahnt haben. Er hat ihn in Kanada aufgegabelt. Während Cole auf Tour war. Auf Tour. Wie lange dauert es wohl, bis ihn jemand in Mercy Falls sieht und erkennt? Was, wenn irgendwer kommt und ihn abholen will und dann verwandelt er sich in einen Wolf? Und im Sommer, wenn er ein Mensch ist, will er sich dann etwa die ganze Zeit im Haus verstecken und hoffen, dass ihn niemand erkennt?«
»Vielleicht«, erwiderte Grace. Sie tupfte sich die Nase mit einem Taschentuch ab, knüllte es zusammen und stopfte es in die Manteltasche. »Vielleicht will er ja verschwunden bleiben und das Ganze ist gar kein Problem. Wie wär’s, wenn du ihn mal fragst? Oder ich mach das, du magst ihn ja nicht.«
»Ich vertraue ihm nur nicht.« Ich ließ die Finger über das Lenkrad gleiten. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Grace den Kopf gegen die Autotür lehnte. Sie sah gar nicht aus wie sie selbst.
Sofort durchflutete mich mein schlechtes Gewissen. Sie hatte sich solche Mühe gegeben, diesen Tag perfekt zu machen, und jetzt ruinierte ich ihn. »Oh Mann – es tut mir leid. Ich bin so was von undankbar. Das Problem läuft uns ja nicht weg, ich denke einfach nicht mehr drüber nach, okay?«
»Lügner.«
»Sei nicht sauer.«
»Ich bin nicht sauer, nur müde. Und ich will, dass du glücklich bist.«
Ich nahm eine Hand vom Lenkrad und strich damit über ihre, die in ihrem Schoß lag. Sie fühlte sich sehr warm an. »Ich bin glücklich«, betonte ich, obwohl ich mich jetzt noch schlechter fühlte als zuvor. Ich war hin- und hergerissen zwischen dem Drang, ihre Hand zu nehmen und daran zu riechen, um festzustellen, ob sie nach Wolf roch, und dem, die Hand in ihrem Schoß liegen zu lassen und mir einzubilden, dass sie es nicht tat.
»Das hier mag ich am liebsten«, sagte sie leise. Zuerst wusste ich nicht, was sie meinte, bis sie den Song, der gerade zu Ende gegangen war, noch mal laufen ließ. Auf der CD sang der andere Sam, der jetzt für immer unverändert und jung bleiben würde, I fell for her in summer, my lovely summer girl, während ein zweiter unveränderbarer Sam die Harmonien übernahm.
Das Herz hämmerte mir in der Brust, während Scheinwerferlicht Streifen ins Auto malte und es dann wieder dem Dunkel überließ. Unwillkürlich musste ich an das letzte Mal denken, als ich diesen Song gesungen hatte. Nicht heute im Studio, sondern das Mal davor. Ich hatte in einem Auto gesessen, in dem es so stockfinster war wie in diesem hier, meine Hand in Grace’ Haar, während sie fuhr. Kurz bevor die Windschutzscheibe zerbarst und die Nacht zu einem Abschied machte.
Eigentlich sollte es ein fröhlicher Song sein. Es schien nicht richtig, dass diese Erinnerung ihn für immer vergiften sollte, ungeachtet dessen, dass die Dinge sich danach zum Guten gewendet hatten.
Neben mir drehte Grace den Kopf und lehnte sich mit der Wange an das Sitzpolster. Sie wirkte müde und gedankenverloren. »Schläfst du ein, wenn ich dich nicht unterhalte?«, fragte sie mit einem schwachen Lächeln.
»Nein, schon okay«, antwortete ich.
Grace nickte dankbar und wickelte sich in ihren Mantel wie in eine Decke. Sie warf mir einen Luftkuss zu und schloss die Augen. Im Hintergrund sang meine Stimme leise: I’d be happy with this summer if it’s all we ever
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