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Ruht das Licht

Ruht das Licht

Titel: Ruht das Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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einer früheren Unterhaltung mit Isabel, als ich sie gerade erst kennengelernt hatte, kam mir in den Kopf – irgendwas über ihren Vater, der ein begeisterter Jäger war.
    Natürlich gab es auch einen Wolf, der wie in der Bewegung erstarrt an einer Wand entlangschlich. Seine Glasaugen glitzerten in dem dämmrigen Raum. Sam musste langsam auf mich abfärben, denn mit einem Mal erschien mir das hier wie eine ganz besonders grausame Art zu sterben, weit weg von deinem eigenen Körper. Wie ein Astronaut, der im Weltall stirbt.
    Ich sah mich zwischen den Tieren um – die Grenze zwischen ihnen und mir kam mir geradezu kümmerlich vor – und öffnete eine Tür auf der anderen Seite des Raumes, von der ich hoffte, dass sie mich endlich zurück in die Küche führen würde.
    Wieder hatte ich mich geirrt. Diesmal war ich in einem runden, unwahrscheinlich vornehmen Zimmer gelandet, elegant erleuchtet vom schwindenden Licht des Sonnenuntergangs, das durch die gekrümmte Fensterfront auf der einen Seite des Raums fiel. In der Mitte stand ein wunderschöner kleiner Stutzflügel – und sonst nichts. Der Flügel und die geschwungenen burgunderroten Wände. Es war ein Zimmer nur für die Musik.
    Mir wurde klar, dass ich mich nicht erinnern konnte, wann ich zum letzten Mal gesungen hatte.
    Ich konnte mich nicht erinnern, wann es mir zum letzten Mal gefehlt hatte.
    Ich berührte den Rand des Flügels; die glatte Oberfläche fühlte sich kühl unter meinen Fingerspitzen an. In diesem Moment, als der kalte Abend sich gegen die Fenster drängte und darauf wartete, meine Gestalt zu verändern, war ich menschlicher, als ich es lange Zeit gewesen war.
ISABEL
    Ich schmollte eine Weile vor mich hin, dann stemmte ich mich vom Bett hoch und wusch mir in meinem winzigen Badezimmer das Gesicht. Als ich wieder einigermaßen vorzeigbar war, ging ich zu dem Fenster, von dem aus Cole nach draußen gesehen hatte, und fragte mich, wie viele Meilen er jetzt wohl schon weg war. Zu meiner Überraschung sah ich den Strahl einer Taschenlampe, der in unregelmäßig zuckenden Bewegungen den tiefblauen Abend durchschnitt und sich in den Wald hineinbewegte, auf die kleine Lichtung mit dem Mosaik zu. War das Cole? Er konnte bei diesem Wetter kein Mensch geblieben sein, nicht wenn er vorhin schon so gezittert hatte und kurz vor der Verwandlung gewesen war. Mein Vater?
    Ich kniff die Augen zusammen, beobachtete das rätselhafte Licht und fragte mich, ob es Ärger bedeutete.
    Und dann hörte ich das Klavier. Ich wusste sofort, dass das nicht mein Vater sein konnte, der noch nicht mal Musik hörte, und meine Mutter hatte schon seit Monaten nicht mehr gespielt. Außerdem war es nicht das zarte, präzise Spiel meiner Mutter. Es war eine verstörende, schleppende Melodie, die sich immer wieder auf den höheren Tasten wiederholte, das spärliche Klimpern von jemandem, der es gewohnt war, dass der Rest des Stücks von anderen Instrumenten ausgefüllt wurde.
    Es passte so wenig dazu, wie ich mir Cole am Klavier vorstellte, dass ich ihn einfach spielen sehen musste. Leise machte ich mich auf den Weg nach unten zum Musikzimmer. Vor der Tür zögerte ich, dann beugte ich mich gerade so weit vor, dass ich sehen konnte, ohne gesehen zu werden.
    Und da war er. Er saß nicht richtig auf der Klavierbank, sondern stützte sich bloß mit dem Knie darauf, als hätte er gar nicht vorgehabt, so lange zu bleiben. Die Pianistenfinger, die mir schon vorher aufgefallen waren, konnte ich aus diesem Winkel nicht sehen, aber das musste ich auch gar nicht. Ich musste nur sein Gesicht sehen. Ohne dass er wusste, dass ihm jemand zuhörte, versunken im wiederkehrenden Rhythmus der Klaviermelodie, nur vom Abendlicht erhellt, war es, als wäre Coles Rüstung von ihm abgefallen. Dies war nicht der auf aggressive Weise gut aussehende, eingebildete Typ, den ich vor ein paar Tagen kennengelernt hatte. Dies war einfach nur ein Junge, der eine neue Melodie ausprobierte. Er wirkte jung und unsicher und liebenswert und ich spürte Neid in mir aufsteigen, weil er eine Methode hatte, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen, und ich nicht.
    Auf irgendeine Weise war er auch jetzt ehrlich; er verriet ein weiteres Geheimnis, während ich nichts mehr hatte, was ich im Gegenzug bereit war zu geben. Zum ersten Mal sah ich etwas in seinen Augen. Ich sah, dass er wieder fühlte und dass, was immer er da fühlte, schmerzhaft war.
    Ich war noch nicht bereit für Schmerzen.

KAPITEL 37
SAM
    Der Heimweg aus Duluth

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