Ruht das Licht
weit in den Vormittag geschlafen. Es kam mir vor, als wäre es ewig her, dass ich das letzte Mal so lange geschlafen hatte, wie ein Toter, trotz der hellen Sonne. Ich stemmte mich auf die Ellbogen hoch, und wie ich so auf Grace hinuntersah, erfasste mich ein seltsames Schwindelgefühl, als stapelten sich plötzlich Tausende ungelebter Tage aufeinander. Sie murmelte etwas, während sie erwachte. Als sie sich zu mir drehte, sah ich kurz etwas Rotes aufblitzen, bevor sie sich mit dem Unterarm über das Gesicht wischte.
»Igitt«, sagte sie, öffnete die Augen und starrte auf ihr Handgelenk.
»Brauchst du ein Taschentuch?«, fragte ich.
Grace stöhnte. »Ich hol mir eins.«
»Nein, lass nur«, sagte ich. »Ich bin ja sowieso schon auf.«
»Bist du nicht.«
»Doch. Guck, ich stütze mich auf den Ellbogen, das heißt, ich bin tausendmal mehr auf als du.« Normalerweise hätte ich mich an dieser Stelle rübergelehnt, um sie zu küssen oder zu kitzeln, um mit der Hand über ihr Bein zu streichen oder meinen Kopf auf ihren Bauch zu legen. Heute aber hatte ich Angst, sie zu zerbrechen.
Grace sah mich an, als käme ihr meine Zurückhaltung verdächtig vor. »Ich könnte mir die Nase auch einfach an deinem T-Shirt abwischen.«
»Bin schon unterwegs«, rief ich und schlüpfte aus dem Bett, um ein Taschentuch zu holen. Als ich zurückkam, hing ihr das Haar wirr ins Gesicht, sodass ich den Ausdruck darauf nicht erkennen konnte. Wortlos putzte sie sich die Nase und knüllte das Taschentuch schnell zusammen, aber nicht so schnell, als dass ich das Blut darauf nicht gesehen hätte.
Ich fühlte mich elend.
Ich reichte ihr eine Handvoll Taschentücher und sagte: »Ich glaube, wir sollten mit dir zum Arzt gehen.«
»Ein Arzt kann mir nicht helfen«, erwiderte Grace. Sie tupfte weiter ihre Nase ab, aber es war nichts mehr da. Stattdessen begann sie, ihren Arm abzuwischen.
»Ich möchte trotzdem, dass du hingehst«, beharrte ich. Ich brauchte etwas, was diese Angst aus meiner Brust verscheuchte.
»Ich hasse Ärzte.«
»Ich weiß«, sagte ich. Das war die Wahrheit, Grace hatte sich schon oft genug darüber ausgelassen. Im Stillen glaubte ich, dass es vielmehr mit ihrer Abneigung gegenüber jeglicher Art von Zeitverschwendung zu tun hatte, als dass sie Angst vor Ärzten hatte oder ihnen nicht viel zutraute. Ihre wahre Aversion galt meiner Meinung nach den Wartezimmern. »Wir können ja ins Gesundheitszentrum fahren. Da geht es schneller.«
Grace zog eine Grimasse und zuckte schließlich zustimmend mit den Schultern. »Na gut.«
»Danke«, seufzte ich erleichtert, als sie sich zurück in die Kissen plumpsen ließ.
Grace schloss die Augen. »Aber ich glaube nicht, dass sie irgendwas finden.«
Ich dachte, dass sie wahrscheinlich recht hatte. Aber was hätte ich sonst machen sollen?
GRACE
Ein Teil von mir wollte zum Arzt gehen, für den Fall, dass man mir helfen konnte. Der weit größere Teil aber hatte Angst, dass man es nicht konnte. Welche Möglichkeit bliebe mir dann noch?
Als wir im Gesundheitszentrum waren, fühlte sich der Tag noch surrealer an als sowieso schon. Ich war noch nie dort gewesen, aber Sam schien sich ziemlich gut auszukennen. Die Wände waren in einem fiesen Seegrün gestrichen und im Behandlungsraum prangte ein Wandbild mit vier unförmigen Killerwalen, die sich in grünen Meereswogen tummelten. Die ganze Zeit über, als der Arzt und die Krankenschwester mich mit Fragen löcherten, steckte Sam abwechselnd die Hände in die Taschen und zog sie wieder heraus. Als ich ihm einen genervten Blick zuwarf, hörte er damit auf und fing stattdessen an, seine Fingergelenke knacken zu lassen.
In meinem Kopf drehte sich alles, was ich dem Arzt auch erzählte, und meine Nase fing sofort brav für die Krankenschwester zu bluten an. Meine Bauchschmerzen aber konnte ich nur beschreiben und beide sahen mich verwirrt an, als ich sie bat, an meiner Haut zu riechen (der Arzt tat es dann auch tatsächlich).
Fünfundneunzig Minuten nachdem wir gekommen waren, verließ ich die Praxis mit einem Rezept für ein Antiallergikum, dem guten Rat, mir ein nicht verschreibungspflichtiges Eisenpräparat und Meersalznasenspray zu holen, sowie um einen ausführlichen Vortrag über Teenager und Schlafmangel reicher. Ach ja, und Sam war um sechzig Dollar ärmer.
»Fühlst du dich jetzt besser?«, fragte ich Sam, als er mir die Tür des VWs aufhielt. In diesem Wetter wirkte er wie ein geducktes Vögelchen, das sich dunkel vor den grauen
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