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Ruht das Licht

Ruht das Licht

Titel: Ruht das Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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waren wie leblose Keulen, ich konnte sie nicht mehr spüren. Wie lange ich schon auf dem gefrorenen Boden gelegen hatte, wusste ich nicht, lange genug jedenfalls, dass der Schneeregen in der Kuhle in meinem Kreuz geschmolzen war.
    Ich zitterte so stark, dass ich kaum stehen konnte; ich fühlte mich unsicher auf den Beinen und versuchte zu begreifen, warum ich mich zurück in einen Menschen verwandelt hatte. Bisher hatte ich meinem menschlichen Körper nur erfreulich kurze Stippvisiten abgestattet, und das auch nur an wärmeren Tagen. Das hier aber war ein eiskalter Abend. Der orangefarbenen Sonne nach zu urteilen, die durch die blattlosen Baumkronen leuchtete, vielleicht gegen sechs oder sieben Uhr.
    Ich hatte keine Zeit, mir über diese andauernde Gestaltwechselei den Kopf zu zerbrechen. Ich zitterte vor Kälte, aber mir wurde kein bisschen übel, noch spürte ich dieses Reißen an meiner Haut, was beides darauf hingedeutet hätte, dass ich mich zurück in einen Wolf verwandelte. Mit wachsender Sicherheit wurde mir klar, dass ich wohl in diesem Körper festsaß, zumindest bis auf Weiteres. Was wohl hieß, dass ich mir einen Unterschlupf suchen musste – ich war splitternackt und würde hier bestimmt nicht auf die ersten Frostbeulen warten. Auf die meisten meiner Gliedmaßen hätte ich ungern verzichtet.
    Ich schlang die Arme um meinen Oberkörper und nahm meine Umgebung in Augenschein. Hinter mir auf dem See tanzten schillernde Lichtflecke. Ich blinzelte in den Wald vor mir und sah die Statue, die den See zu überblicken schien, und hinter der Statue die Betonbänke. Das hieß, ich war in unmittelbarer Nähe des riesigen Hauses, das ich schon früher mal gesehen hatte. Jetzt hatte ich wenigstens ein Ziel. Hoffentlich war keiner zu Hause.
    Es standen keine Autos in der Auffahrt, bisher sah es also aus, als hätte ich Glück.
    »Verdammt, verdammt, verdammt«, murmelte ich vor mich hin, während ich bei jedem Schritt über den Kies auf dem Weg zur Hintertür zusammenzuckte. In meinen nackten Füßen schienen gerade genug Nerven zu funktionieren, dass ich spürte, wie sich die spitzen Steine in mein kaltes Fleisch bohrten. Wunden verheilten bei mir jetzt schneller als früher, als ich einfach nur Cole gewesen war, aber das machte den Schmerz unter meinen Fußsohlen kein bisschen erträglicher.
    Ich versuchte es an der Hintertür – sie war nicht abgeschlossen. Ganz offensichtlich lächelte der nette alte Mann da oben gerade auf mich herab. Ich nahm mir vor, ihm mal eine Postkarte zu schicken. Ich drückte die Tür auf und trat in einen ziemlich unaufgeräumten Abstellraum, in dem es nach Barbecuesoße roch. Einen Augenblick lang blieb ich einfach stehen, zitternd, wie paralysiert von dem Gedanken an gegrilltes Fleisch. Mein Bauch – der ein gutes Stück flacher und härter war als das letzte Mal, als ich ein Mensch gewesen war – gab ein lautes Knurren von sich und ich zog kurz in Erwägung, als Erstes die Küche zu suchen und was zu essen zu klauen.
    Als mir klar wurde, wie sehr ich das wollte, musste ich lächeln. Dann riefen meine kalten Füße mir wieder in Erinnerung, warum ich eigentlich hier war. Erst was zum Anziehen. Dann Essen. Ich ging aus dem Abstellraum und gelangte in einen schummrigen Hausflur.
    Das Haus war genauso gigantisch, wie es von außen wirkte, und hätte sich wunderbar auf einer Doppelseite in Schöner Wohnen gemacht. Alles, was an der Wand hing, war in perfekten Dreier- oder Fünferformationen angeordnet, entweder akkurat in einer Reihe oder kunstvoll asymmetrisch. Ein makellos sauberer Teppich in einer Farbe, die vermutlich »mauve« hieß, führte mich durch den ansonsten mit Holzdielen ausgelegten Flur. Als ich kurz einen Blick über die Schulter warf, um sicherzugehen, dass die Luft noch immer rein war, wäre ich fast über eine ziemlich teuer aussehende Vase gestolpert, in der ein paar stilvoll arrangierte tote Zweige standen. Ich fragte mich, ob hier wirklich Menschen lebten.
    Dringender beschäftigte mich im Moment allerdings die Frage, ob hier wohl jemand lebte, der meine Kleidergröße trug.
    Als ich in die Eingangshalle kam, zögerte ich. Links von mir zweigte ein weiterer dämmriger Flur ab. Rechts führte eine gewaltige, düstere Treppe nach oben, bei der ich an Mordszenen in uralten Gruselfilmen denken musste. Ich bemühte kurz meinen gesunden Menschenverstand und beschloss, nach oben zu gehen. Wenn ich ein reicher Typ in Minnesota wäre, hätte ich mein Schlafzimmer dort.

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