Ruht das Licht
Wärme steigt schließlich nach oben.
Über die Treppe gelangte ich auf eine Art Galerie, von der aus man die Eingangshalle überblicken konnte. Meine Zehen brannten auf dem dicken grünen Teppich, als langsam das Gefühl in sie zurückkehrte. Aber der Schmerz hatte etwas Gutes. Er war ein Zeichen dafür, dass noch Blut in meinen Füßen floss.
»Stehen bleiben.«
Eine weibliche Stimme ließ mich erstarren. Sie klang nicht verängstigt angesichts eines nackten Typen, der durch ihr Haus geisterte, also ging ich davon aus, dass ich in den Lauf eines Gewehrs blicken würde, wenn ich mich umdrehte. Allzu deutlich wurde mir bewusst, dass mein Herz in ganz normalem Tempo schlug. Verdammt, ein bisschen Adrenalin hätte wirklich nicht geschadet.
Ich drehte mich um.
Es war ein Mädchen. Sie sah ziemlich hammermäßig aus mit ihren riesigen blauen Augen, die halb unter einem unregelmäßigen blonden Pony verschwanden, aber gleichzeitig so, als würde sie einem, ohne mit der Wimper zu zucken, das Herz zertrampeln. Und irgendwas an ihrer Haltung sagte mir, dass sie das auch ganz genau wusste. Als sie den Blick von oben bis unten über meinen Körper wandern ließ, hatte ich das Gefühl, geprüft und für mangelhaft befunden zu werden.
Ich versuchte zu lächeln. »Hi. Sorry. Ich bin leider nackt.«
»Schön, dich kennenzulernen. Ich bin Isabel«, sagte sie. »Was genau hast du in unserem Haus zu suchen?«
Auf diese Frage gab es eigentlich keine passende Antwort.
Unter uns hörte man eine Tür ins Schloss fallen. Isabel und ich zuckten gleichermaßen zusammen und sahen in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Einen winzigen Moment lang hämmerte mir das Herz in der Brust und ich war überrascht, Angst zu spüren – überhaupt irgendwas zu spüren nach so langer Zeit ohne jegliches Gefühl.
Ich konnte mich nicht rühren.
»Mein Gott !« Eine Frau erschien am Fuß der Treppe und starrte durch das Geländer der Galerie geradewegs zu mir herauf. Ihr Blick flog zu Isabel. »Mein Gott. Was in aller –«
Ich würde von zwei Generationen atemberaubend schöner Frauen ermordet werden. Splitternackt.
»Mom« ,unterbrach Isabel sie indigniert. »Würde es dir was ausmachen, ihn nicht so anzuglotzen? Das ist ja pervers.«
Jetzt starrten ihre Mutter und ich sie an.
Isabel trat einen Schritt näher an mich heran und lehnte sich über das Geländer zu ihrer Mutter herunter. »Wie wär’s mal mit einem kleinen bisschen Privatsphäre?«, rief sie nach unten.
Das erweckte ihre Mutter wieder zum Leben. Sie keifte zurück und ihre Stimme wurde mit jedem Wort schriller: »Isabel Rosemary Culpeper, würdest du mir bitte erklären, was ein nackter Junge in diesem Haus zu suchen hat?«
»Tja, denk mal scharf nach«, fauchte Isabel zurück. »Was, glaubst du, mache ich wohl mit einem nackten Jungen in diesem Haus? Hat Dr. Karottennase dich etwa nicht gewarnt, dass ich irgendwann austicken könnte, wenn ihr mich weiterhin ignoriert? Also, hier hast du’s, Mom! Ich ticke gerade so was von aus. Ja, starr nur weiter hierherauf! Hoffentlich gefällt dir die Aussicht! Ich weiß wirklich nicht, warum du uns zur Therapie schleppst, wenn du dich selbst kein bisschen an das hältst, was der Typ dir sagt. Mach nur weiter so, bestraf mich für deine eigenen Fehler!«
»Kleines«, sagte ihre Mutter, nun viel leiser. »Aber so was –«
»Du kannst froh sein, dass ich nicht an der nächsten Straßenecke gelandet bin!«, schrie Isabel. Sie drehte sich zu mir um und ihr Gesichtsausdruck wurde augenblicklich weich. Mit millionenfach sanfterer Stimme säuselte sie: »Hase, ich will nicht, dass du mich so siehst. Warum gehst du nicht zurück in mein Zimmer?«
Ich war ein Schauspieler in meinem eigenen Leben.
Unten rieb ihre Mutter sich mit der Hand über die Stirn und versuchte krampfhaft, nicht in meine Richtung zu sehen. »Bitte, sag ihm nur, er soll sich was anziehen, bevor dein Vater nach Hause kommt. Ich brauche jetzt erst mal einen Drink. Und ich will ihn nie wieder hier sehen.«
Als ihre Mutter sich umdrehte, griff Isabel mich beim Arm – irgendwie versetzte es mir einen Schock, ihre Hände auf meiner Haut zu spüren – und zerrte mich durch den Flur in eines der Zimmer. Es erwies sich als Badezimmer, komplett in Schwarz-Weiß gefliest. In der Ecke stand eine riesige Badewanne mit Klauenfüßen, die den größten Teil des Raumes einnahm.
Isabel schubste mich so grob über die Schwelle, dass ich fast in die Wanne stolperte,
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