Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ruht das Licht

Ruht das Licht

Titel: Ruht das Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
Vom Netzwerk:
zurücklehnte.
    »Weißt du noch, wie wir das erste Mal hier oben waren?«, fragte sie mich, während ich so dasaß, allein im Dunkeln hinter meinen geschlossenen Lidern.
    Das war keine Frage, die einer Antwort bedurfte, also lächelte ich nur.
    »Weißt du noch, wie du zu mir gesagt hast, ich soll die Augen zumachen, und wie du mir dann das Gedicht von Rilke vorgelesen hast?« Grace’ Stimme war jetzt näher; ich spürte, wie ihr Knie meins berührte. »In diesem Moment habe ich dich so geliebt, Sam Roth.«
    Über meine Haut lief ein Schauder. Ich schluckte. Ich wusste ja, dass sie mich liebte, aber sie sprach es fast nie aus. Das allein hätte mir schon als Geburtstagsgeschenk gereicht. Meine Hände lagen geöffnet in meinem Schoß; ich fühlte, wie Grace etwas hineinlegte und sie dann zusammendrückte. Ein Stück Papier.
    »Ich dachte immer, ich könnte niemals so romantisch sein wie du«, sagte sie. »Du weißt ja, dass ich nicht gut in solchen Dingen bin. Aber – na ja.« Und sie lachte ein bisschen vor sich hin, ein ulkiges kleines Lachen, so liebenswert, dass ich es fast nicht mehr ausgehalten und die Augen geöffnet hätte, um sie dabei ansehen zu können. »So, jetzt kann ich’s aber auch nicht mehr erwarten. Du darfst gucken.«
    Ich machte die Augen auf. Ein zusammengefaltetes Stück Druckerpapier lag in meinen Händen. Die Schrift auf der Innenseite schien geisterhaft durch, aber ich konnte noch nichts lesen.
    Grace konnte kaum stillsitzen. Ihre Vorfreude war schwer zu ertragen, weil ich nicht wusste, ob ich ihr gerecht werden würde.
    »Klapp es auf.«
    Ich versuchte, mich an mein glückliches Gesicht zu erinnern. Die hochgerissenen Augenbrauen, das breite Grinsen, das überraschte Blinzeln.
    Ich faltete das Blatt auseinander.
    Und vergaß vollkommen, wie mein Gesicht hatte aussehen sollen. Ich saß einfach da und starrte auf die Buchstaben auf dem Papier, ohne an ihre Bedeutung zu glauben. Es war nicht das riesigste Geschenk aller Zeiten, aber für Grace war es mit Sicherheit nicht einfach gewesen daranzukommen. Was aber das wirklich Unglaubliche daran war: Das da war ich, der gute Vorsatz, den ich nicht aufzuschreiben gewagt hatte. Es bedeutete, dass sie mich kannte. Es machte das »Ich liebe dich« echt.
    Es war eine Rechnung. Über fünf Stunden im Tonstudio.
    Ich sah zu Grace auf. Ihr erwartungsvoller Gesichtsausdruck war etwas völlig anderem gewichen. Absoluter Zufriedenheit. Zufriedenheit mit sich selbst, also hatte mein Gesicht mit dem, was es von ganz allein gemacht hatte, wohl das Richtige gesagt.
    »Grace«, sagte ich und meine Stimme klang tiefer, als ich beabsichtigt hatte.
    Ihr selbstzufriedenes kleines Lächeln sah so aus, als wollte es immer breiter werden. »Gefällt es dir?«, fragte sie überflüssigerweise.
    »Ich …«
    Sie ersparte mir den Rest des Satzes. »Das Studio ist in Duluth. Ich habe den Termin extra auf einen Tag gelegt, an dem wir beide freihaben. Ich dachte mir, du könntest ein paar von deinen Songs spielen und … Na ja, keine Ahnung. Eben das machen, was du gerne möchtest.«
    »Ein Demo«, sagte ich leise. Dieses Geschenk war größer, als sie dachte – oder vielleicht wusste sie auch ganz genau, wie viel es für mich bedeutete. Es war nicht nur ein anerkennendes Nicken für meine Musik – es war eine Bestätigung für mich und das, was kam. Dafür, dass es eine nächste Woche, einen nächsten Monat und ein nächstes Jahr für mich geben würde. Ein Besuch im Studio bedeutete Pläne für eine vollkommen neue Zukunft. Ein Besuch im Studio bedeutete, dass ich jemandem mein Demo geben konnte, und wenn er dann sagte: »Ich melde mich in einem Monat«, würde ich zu diesem Zeitpunkt immer noch ein Mensch sein.
    »Oh Mann, ich liebe dich, Grace«, sagte ich und schlang ihr die Arme um den Hals und zog sie an mich, die Rechnung noch in der Hand. Ich drückte meine Lippen auf ihre Schläfe und umarmte sie noch einmal genauso fest. Schließlich legte ich das Blatt Papier neben den Subway-Kranich.
    »Und, machst du daraus auch einen Kranich?«, fragte Grace und schloss die Augen, damit ich sie noch mal küsste.
    Aber ich küsste sie nicht. Ich strich ihr nur das Haar aus dem Gesicht und sah sie an. Sie erinnerte mich an einen dieser Engel, die auf Gräbern stehen, die Augen geschlossen, das Gesicht nach oben gewandt, die Hände gefaltet.
    »Du fühlst dich schon wieder so heiß an«, bemerkte ich. »Geht’s dir gut?«
    Grace hielt die Augen geschlossen und ließ mich

Weitere Kostenlose Bücher