Ruht das Licht
am wenigsten erwartete. Wie jetzt, als ich über die Theke im Buchladen gebeugt saß, meine Bücher Zentimeter von meinen leeren Händen entfernt. Mein Blick wanderte aus dem Fenster, hinaus in den bräunlich heraufziehenden Abend. Die letzten Worte, die ich gelesen hatte, lagen mir noch auf den Lippen – Mandelstam, der über mich schrieb, ohne mich gekannt haben zu können:
Doch ich bin nicht von wölfischem Blut
Draußen tauchten die letzten Sonnenstrahlen die Umrisse der parkenden Autos in gleißenden Bernstein und füllten die Pfützen auf der Straße mit flüssigem Gold. Das Innere des Ladens hatte sich dem sterbenden Tag bereits entzogen, düster und leer, wie im Halbschlaf, lag alles da.
Noch zwanzig Minuten bis Ladenschluss.
Heute war mein Geburtstag.
Ich erinnerte mich daran, wie meine Mutter mir zum Geburtstag immer Cupcakes gebacken hatte. Niemals einen großen Kuchen, es war ja keiner da außer meinen Eltern und mir und ich aß nur Spatzenportionen von Nahrungsmitteln, die ich geprüft und für gut befunden hatte. Ein ganzer Kuchen wäre nur vertrocknet.
Also backte meine Mutter Cupcakes. Ich erinnerte mich an den Vanilleduft der Glasur, die immer hastig mit einem Buttermesser auf den Kuchen gestrichen wurde. Für sich genommen, wäre das eigentlich nichts Besonderes gewesen, wenn nicht in einem dieser Küchlein eine Kerze gesteckt hätte. Am Docht leuchtete eine winzige Flamme, unter der eine Perle geschmolzenen Wachses zitterte, und das alles verwandelte diesen kleinen Kuchen in etwas Strahlendes, Schönes, Wunderbares.
Ich konnte noch immer den Kirchengeruch des ausgeblasenen Streichholzes riechen und sehen, wie sich die Flamme in den Augen meiner Mutter spiegelte. Ich spürte das weiche Kissen auf dem Küchenstuhl unter meinen dünnen, hochgezogenen Beinen, hörte meine Mutter sagen, ich solle die Hände auf dem Schoß lassen, und sah zu, wie sie den Kuchen vor mir abstellte – nie ließ sie mich den Teller festhalten, aus Angst, die Kerze könnte mir auf den Schoß fallen.
Meine Eltern waren immer so vorsichtig mit mir umgegangen, bis zu dem Tag, an dem sie entschieden, dass ich sterben musste.
Jetzt, im Buchladen, stützte ich den Kopf auf die Hände und starrte auf die eingeknickte Ecke des Buchs zwischen meinen Ellbogen. Ich konnte genau sehen, dass das Cover nicht ein einzelnes Stück Papier war, sondern eher ein bedruckter, zusammengepresster Stapel mit einer Schutzschicht darüber; die oberste Schicht hatte sich abgelöst und eine Ecke des eigentlichen Papiers darunter fleckig, gelb und rissig werden lassen.
Ich fragte mich, ob ich mich wirklich daran erinnerte, dass meine Mutter mir Cupcakes gebacken hatte, oder ob das etwas war, was mein Gehirn aus einem der Tausenden von Büchern gestohlen hatte, die ich gelesen hatte. Ob meine Mutter mit der von jemand anderem überklebt worden war, die sich eingeschlichen hatte, um die Lücke zu füllen.
Ohne den Kopf zu bewegen, hob ich den Blick, bis ich die symmetrischen Narben an meinen Handgelenken sehen konnte. Im matten Abendlicht waren die Adern unter der durchscheinenden Haut meiner Arme deutlich zu erkennen, bis die zartblauen Windungen unter dem schroffen Narbengewebe verschwanden. Im Geiste streckte ich glatte, unversehrte Arme aus, um nach dem Kuchen zu greifen, Arme, die noch heil und geschützt waren durch die Liebe meiner Eltern. Meine Mutter lächelte mich an.
Alles Gute zum Geburtstag.
Ich schloss die Augen.
Ich wusste nicht, wie lange ich so dagesessen hatte, als das Pling der Ladentür mich auffahren ließ. Ich wollte gerade rufen, dass wir schon geschlossen hätten, als Grace sich umdrehte und die Tür mit der Schulter hinter sich zuschob. In der einen Hand hatte sie einen Getränkehalter aus Pappe und in der anderen eine Subway-Tüte. Es war, als wäre im Laden ein zusätzliches Licht angegangen, alles wirkte plötzlich viel heller.
Vor lauter Überraschung versäumte ich, aufzuspringen und ihr zu helfen, und als es mir endlich in den Sinn kam, hatte sie ihre Fracht schon auf der Theke abgestellt und war zu mir auf die andere Seite gekommen. Dann warf sie die Arme um mich und flüsterte mir »Herzlichen Glückwunsch« ins Ohr.
Ich befreite meine Hände aus ihrer Umarmung und legte sie um ihre Taille. Ich drückte sie fest an mich und vergrub das Gesicht an ihrem Hals, um meine Überraschung zu verbergen. »Woher wusstest du das?«
»Beck hat es mir erzählt, bevor er sich verwandelt hat«, erklärte Grace.
Weitere Kostenlose Bücher