Ruht das Licht
meisten Menschen ihre größten Geheimnisse verbargen. Dann ein brauner Umschlag, auf dem »Sam« stand. Langsam wurde es spannend. Ich zog das erste Blatt heraus. Adoptionspapiere. Na also.
Ich schüttete den Inhalt des Umschlags auf den Schreibtisch und zog dann noch ein paar kleinere Zettel heraus, die drin stecken geblieben waren. Eine Geburtsurkunde: Samuel Kerr Roth. Ich erfuhr, dass er ungefähr ein Jahr jünger war als ich. Ein Foto von Sam, klein und schmächtig, aber mit demselben dunklen Pilzkopf und denselben schwermütigen Augen wie gestern Nacht. Sein Gesichtsausdruck war schwer zu deuten. Gestern waren mir gleich seine freakigen wolfsgelben Augen aufgefallen. Als ich jetzt das Foto näher betrachtete, erkannte ich bei diesem Mini-Sam dieselbe gelbgoldene Augenfarbe. Also waren es keine getönten Kontaktlinsen. Irgendwie machte ihn mir das ein wenig sympathischer. Ich legte das Foto weg. Als Nächstes kam ein Bündel vergilbter Zeitungsausschnitte. Ich überflog die Artikel.
»Ein Ehepaar aus Duluth, Gregory und Annette Roth, wurde am Montag für den versuchten Mord an ihrem siebenjährigen Sohn verurteilt. Das Kind (dessen Name aus Datenschutzgründen nicht genannt wird) befindet sich in der Obhut des Jugendamtes. Über sein Schicksal soll nun entschieden werden. Die Eltern wurden für schuldig befunden, ihren Sohn in einer Badewanne festgehalten und ihm mit einer Rasierklinge die Pulsadern aufgeschnitten zu haben. Nach der Tat vertraute Annette Roth einer Nachbarin an, dass ihr Sohn zu langsam sterbe. Der Polizei gegenüber erklärten sie und ihr Mann, ihr Sohn sei vom Teufel besessen.«
In meiner Kehle hatte sich vor Abscheu ein dicker Kloß gebildet, der sich einfach nicht hinunterschlucken ließ. Angestrengt versuchte ich, nicht an Victors kleinen Bruder zu denken, der jetzt acht war. Ich blätterte zurück zu dem Foto von Sam, auf dem er Becks Hand hielt, und sah es mir noch einmal genau an. Seine halb geschlossenen Augen starrten ins Leere auf irgendeinen Punkt hinter der Kamera. Seine kleine Hand lag in Becks und das Handgelenk zeigte nach vorne, sodass man deutlich die dünne rötlich braune Linie sehen konnte, die darüber verlief.
Eine kleine Stimme in meinem Kopf sagte: Und du glaubst, du wärst schlimm dran.
Ich schob die Zeitungsausschnitte und das Foto zurück in den Umschlag, damit ich sie nicht mehr sehen musste, und widmete mich stattdessen dem Stapel Papieren darunter. Es war ein Treuhandvertrag, in dem Sam sämtliche genannten Güter – zu denen auch das Haus gehörte – sowie die Vollmacht über ein Girokonto, das auf Becks und Sams Namen lief, überschrieben wurden.
Gar nicht mal so übel. Ich fragte mich, ob Sam wohl wusste, dass ihm der Laden hier quasi gehörte. Unter den Papieren fand ich noch einen weiteren braunen Taschenkalender. Ich blätterte ihn flüchtig durch und sah, dass er Tagebucheinträge in der sparsamen, steilen Schrift eines Linkshänders enthielt. Ich schlug die erste Seite auf: Wenn du das hier liest, bin ich entweder für immer ein Wolf oder du bist Ulrik und lässt gefälligst sofort die Finger von meinen Sachen.
Ich fuhr zusammen, als das Telefon klingelte. Reglos ließ ich es zweimal klingeln, dann ging ich ran. »Ja.«
»Cole?«
Meine Laune hob sich augenblicklich. »Kommt drauf an. Mami, bist du’s?«
Isabels Stimme drang scharf aus dem Hörer. »Ich hätte nicht gedacht, dass du so was überhaupt hast. Weiß Sam, dass du jetzt auch schon ans Telefon gehst?«
»Wolltest du ihn sprechen?«
Schweigen.
»Und ist das deine Nummer hier auf dem Display?«
»Ja«, sagte Isabel. »Aber komm nicht auf die Idee, mich anzurufen. Was machst du gerade? Du bist also immer noch du?«
»Im Moment ja. Ich schnüffele gerade in Becks Sachen rum«, erwiderte ich und schob den »Sam« -Umschlag und seinen Inhalt zurück in die Schublade.
»Soll das ein Scherz sein?«, fragte Isabel. Dann beantwortete sie ihre Frage selbst. »Wohl eher nicht.« Wieder Schweigen. »Was hast du gefunden?«
»Komm her und ich zeig’s dir.«
»Ich bin in der Schule.«
»Und da kannst du telefonieren?«
Isabel schwieg kurz. »Ich bin auf der Toilette und versuche, die nötige Motivation für meinen nächsten Kurs aufzubringen. Jetzt sag schon, was du gefunden hast. Ein paar brisante Enthüllungen würden mich bestimmt aufheitern.«
»Sams Adoptionspapiere. Und ein paar Zeitungsausschnitte über seine Eltern, die versucht haben, ihn umzubringen. Und dann hab ich noch eine
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