Ruht das Licht
Gesprächspause nun schon ziemlich lange andauerte und dass Karyn mich immer noch beobachtete.
»Ist er oft hier gewesen?«, wollte ich wissen. »Ohne mich, meine ich?«
Sie nickte. »Ziemlich oft. Er hat viele Biografien gekauft.« Sie hielt inne, anscheinend dachte sie darüber nach. Sie hatte mal gesagt, man könne einen Menschen komplett psychoanalysieren, wenn man wusste, was für Bücher er las. Ich fragte mich, was ihr Becks Vorliebe für Biografien – zu Hause füllten sie Regal um Regal – über ihn sagte. Karyn fuhr fort: »Ich erinnere mich noch genau an seinen letzten Kauf. Das war nämlich keine Biografie, da war ich ziemlich überrascht. Es war ein Tagesplaner.«
Ich runzelte die Stirn. Ich konnte mich nicht erinnern, je einen bei ihm gesehen zu haben.
»So einer mit genug Platz für Kommentare und Tagebucheinträge.« Karyn stockte. »Er hat gesagt, er wolle seine Gedanken aufschreiben, für Zeiten, in denen er sich nicht an sie würde erinnern können.«
Ich musste mich wieder zu den Regalen umdrehen, denn plötzlich brannten Tränen in meinen Augen. Ich versuchte, mich auf die Titel vor mir zu konzentrieren, um meine Gefühle wieder zu bändigen. Mein Finger fuhr über einen der Buchrücken, während die Wörter verschwammen und wieder klar wurden, verschwammen und klar wurden.
»Ist mit ihm alles in Ordnung, Sam?«, fragte Karyn.
Ich sah zu Boden, auf die alten Holzdielen, die sich dort, wo sie unter den Regalen verschwanden, etwas wölbten. Ich fühlte mich gefährlich außer Kontrolle, als wallten die Worte schon in mir auf, bereit, aus mir herauszubrechen. Also sagte ich gar nichts. Ich dachte nicht an die leeren, hallenden Zimmer in Becks Haus. Ich dachte nicht daran, dass nun ich derjenige war, der die Milch kaufte und die Konserven für den Schuppen. Ich dachte nicht an Beck, der in seinem Wolfskörper gefangen war und mich vom Wald aus beobachtete, der sich nicht mehr erinnern, keinen menschlichen Gedanken mehr fassen konnte. Ich dachte nicht daran, dass es in diesem Sommer nichts – niemanden – mehr geben würde, auf den ich warten konnte.
Ich starrte auf eine winzige schwarze Erhebung in der Diele vor meinen Füßen. Ein einsamer dunkler Punkt inmitten des goldenen Holzes.
Ich wollte zu Grace.
»Entschuldige«, sagte Karyn. »Ich wollte nicht – ich wollte nicht so neugierig sein.«
Es tat mir leid, dass sie sich jetzt deswegen unbehaglich fühlte. »Das weiß ich doch. Bist du ja auch gar nicht. Es ist nur so –« Ich presste mir die Finger an die Stirn, mitten ins Epizentrum dieser geisterhaften Kopfschmerzen. »Er ist krank. Er – hat nicht mehr lange.« Die Worte sickerten langsam aus meinem Mund, eine schmerzhafte Mischung aus Wahrheit und Lüge.
»Oh Sam, das tut mir leid. Ist er zu Hause?«
Ohne mich umzudrehen, schüttelte ich den Kopf.
»Darum nimmt dich das mit Grace’ Fieber so mit«, vermutete Karyn.
Ich schloss die Augen. In diesem Dunkel wurde mir schwindelig, als hätte ich plötzlich den Boden unter den Füßen verloren. Ich war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihr alles zu erzählen, und dem, meine Ängste geheim zu halten, sie zu bezwingen, indem ich sie für mich behielt. Die Worte quollen nur so hervor, bevor ich darüber nachdenken konnte. »Ich darf sie nicht beide verlieren. Ich weiß … ich weiß, wie viel ich ertragen kann, und das … ertrage ich nicht.«
Karyn seufzte. »Dreh dich um, Sam.«
Widerstrebend drehte ich mich um und sah, wie sie den Notizblock mit der Inventurliste hochhielt. Mit ihrem Kugelschreiber zeigte sie auf die Buchstaben SR, die in ihrer Handschrift unter meinen Aufzeichnungen standen. »Siehst du das hier? Deine Initialen. Und zwar, weil ich dir jetzt befehle, nach Hause zu gehen. Oder wohin du willst. Was dir eben hilft, einen klaren Kopf zu bekommen.«
Meine Stimme war sehr leise. »Danke.«
Sie wuschelte mir durchs Haar, als ich meine Gitarre und mein Buch von der Theke nahm. »Sam«, hielt sie mich zurück, als ich gerade an ihr vorbei war, »ich glaube, du bist aus härterem Holz geschnitzt, als du denkst.«
Ich setzte ein Lächeln auf, das noch nicht mal bis zur Hintertür hielt.
Als ich die Tür öffnete, stieß ich beinahe mit Rachel zusammen. Sei es durch gewaltiges Glück oder immense Geschicklichkeit, ich schaffte es auf jeden Fall, ihr nicht meinen Tee über den gestreiften Schal zu kippen. Sie riss ihn aus der Gefahrenzone, als die Bedrohung durch die heiße Flüssigkeit schon längst
Weitere Kostenlose Bücher