Ruht das Licht
Ganztagskunstveranstaltung und hofft, dass ich noch lebe, wenn ihr nach Hause kommt? Ach, stimmt ja. Das habt ihr ja gerade vor. Entscheidet euch, Leute. Entweder Eltern oder Mitbewohner. Ihr könnt nicht jahrelang das eine sein und dann auf einmal das andere wollen.«
Es folgte ein langes Schweigen. Mom sah in eine Ecke des Zimmers, als liefe in ihrem Kopf gerade irgendein Song, den nur sie hörte. Dad blickte mich finster an. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Darüber unterhalten wir uns noch, wenn wir nach Hause kommen, Grace. Ich finde es wirklich unfair von dir, jetzt damit anzufangen, obwohl du genau weißt, dass wir gerade auf dem Sprung sind.«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust, die Hände zu Fäusten geballt. Nein, ich würde mir kein schlechtes Gewissen einreden lassen für das, was ich gesagt hatte. Dafür hatte ich schon viel zu lange darauf gewartet, es loszuwerden.
Mom sah auf die Uhr und der Bann war gebrochen.
Dad war schon auf dem Weg zur Tür, als er sagte: »Wir reden später weiter. Wir müssen jetzt los.«
In einem Ton, der klang, als würde sie etwas herunterbeten, was Dad ihr eingebläut hatte, fügte Mom hinzu: »Wir vertrauen darauf, dass du unsere Autorität respektierst.«
Mir dagegen schienen sie kein bisschen zu vertrauen, denn als ich in die Küche ging, nachdem sie weg waren, sah ich, dass sie meinen Autoschlüssel mitgenommen hatten.
Es war mir egal. Ich hatte einen Ersatzschlüssel in meinem Rucksack, von dem sie nichts wussten. Tief in meinem Inneren regte sich etwas Unsichtbares, Gefährliches. Ich war zum letzten Mal die brave Tochter gewesen.
Es wurde gerade hell, als ich bei Becks Haus ankam.
»Sam?«, rief ich, aber ich bekam keine Antwort. Das Erdgeschoss wirkte verlassen, also ging ich die Treppe hoch in den ersten Stock. Ich fand Sams Zimmer sofort. Die Sonne stand noch hinter den Bäumen und durch das Fenster sickerte nur fahlgraues Licht, aber es reichte aus, um Spuren menschlichen Lebens zu erkennen: Die Decke war auf eine Seite des Betts geschlagen und auf dem Boden lag eine zerknüllte Jeans neben einem Paar Socken auf links und einem hingepfefferten T-Shirt.
Eine Weile stand ich nur neben dem Bett und starrte auf die zerwühlten Laken. Dann kroch ich hinein. Das Kissen roch nach Sams Haar und nach diesen Nächten ohne ihn fühlte ich mich in dem Bett wie im Himmel. Ich hatte keine Ahnung, wo er war, aber ich wusste, er würde wiederkommen. Schon jetzt hatte ich das Gefühl, wieder bei ihm zu sein. Meine Lider wurden plötzlich bleischwer.
Hinter meinen geschlossenen Augen entspann sich ein Gewirr von unterschiedlichen Gefühlen. Die allgegenwärtigen Schmerzen. Der Anflug von Neid, als ich an Olivia dachte, die nun ein Wolf war. Die rohe Wut auf meine Eltern. Die lähmende Intensität, mit der ich Sam vermisste. Seine Lippen, die meine Stirn berührten.
Bevor ich mir dessen gewahr wurde, war ich eingeschlafen – oder vielmehr, wachte ich wieder auf. Es war, als wäre überhaupt keine Zeit vergangen, doch als ich die Augen öffnete, hatte ich mich zur Wand gedreht und die Bettdecke lag über meinen Schultern.
Normalerweise war ich, wenn ich in einem fremden Bett aufwachte – bei meiner Großmutter zum Beispiel oder die wenigen Male, die ich in einem Hotel übernachtet hatte –, einen Moment lang verwirrt, während mein Kopf zu ergründen versuchte, warum das Licht anders war und das Kissen nicht meines. Aber in Sams Zimmer aufzuwachen, war einfach … aufzuwachen. Es war, als hätte mein Körper selbst während des Schlafes nicht vergessen, wo ich war.
Und so war ich kein bisschen überrascht, als ich mich umdrehte und einen ganzen Schwarm Vögel zwischen mir und der Decke schweben sah. Ich staunte bloß. Dutzende Papiervögel in allen Formen, Größen und Farben tanzten sanft im Luftzug der Heizung, ein Leben in Zeitlupe. Das mittlerweile hell strahlende Licht, das durch das hohe Fenster fiel, malte vogelförmige Schatten in das ganze Zimmer: an die Decke, die Wände, auf die Regale und Bücherstapel, die Bettdecke, in mein Gesicht. Es war wunderschön.
Ich fragte mich, wie lange ich wohl geschlafen hatte. Und dann fragte ich mich, wo Sam war. Ich streckte mich und bemerkte das dumpfe Rauschen der Dusche, das durch die Tür drang. Undeutlich hörte ich Sams Stimme über das Plätschern des Wassers hinweg:
All these perfect days, made of glass
put on the shelf where they can cast
perfect shadows that stretch and grow
on the
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