Ruht das Licht
imperfect days down below.
Er sang den Vers noch einmal, dann noch einmal, änderte ›stretch and grow‹ in › shift and glow‹ ,dann in › shift and grow‹ .Seine Stimme klang nass und hallte.
Ich lächelte, obwohl niemand da war, der es hätte sehen können. Der Streit mit meinen Eltern kam mir jetzt vor wie etwas, was eine frühere Grace erlebt hatte. Ich kickte die Decke von mir und stand auf, wobei ich mit dem Kopf einen der Vögel auf einen wilden Rundflug schickte. Ich griff nach oben, um ihn anzuhalten, und sah mich dann zwischen den anderen Vögeln um. Ich wollte sehen, woraus sie gemacht waren. Der eine, gegen den ich mit dem Kopf gestoßen war, war aus Zeitungspapier. Ein anderer aus der Titelseite einer Hochglanzzeitschrift. Noch ein anderer aus irgendeinem Papier, das mit einem hübschen, aufwendigen Blumen- und Rankenmuster bedruckt war. Einer sah aus, als wäre er früher mal eine Seite aus einer Steuererklärung gewesen. Ein anderer, winzig und ein wenig unförmig, bestand aus zwei mit Tesafilm aneinandergeklebten Dollarscheinen. Ein Zeugnis aus einer Fernschule in Maryland. So viele Geschichten und Erinnerungen zu Andenken gefaltet. Es war so typisch für Sam, sie alle über das Bett zu hängen, in dem er schlief.
Ich griff nach dem einen, der genau über seinem Kissen hing. Ein knittriger Notizzettel mit Sams Handschrift darauf, ein Echo der Stimme, die ich jetzt im Hintergrund hörte. Eine der hastig hingekritzelten Zeilen lautete: girl lying in the snow.
Ich seufzte. Ich fühlte mich seltsam leer. Aber nicht im negativen Sinn. Es war eher so, als würde ich gar nichts spüren, wie man sich fühlt, wenn man lange Zeit Schmerzen hatte und einem plötzlich bewusst wird, dass sie weg sind. Es war das Gefühl, das einen ergreift, wenn man alles riskiert hat, um mit diesem einen Jungen zusammen zu sein, und dann erkennt, dass er genau das ist, was man immer wollte. Ich hatte mich immer als vollständiges Bild gesehen. In Wirklichkeit aber war ich ein Puzzleteil, doch das wurde mir erst klar, als ich das Teil fand, das zu mir gehörte.
Ich lächelte wieder und die Vögel tanzten um mich herum.
»Hi«, sagte Sam an der Tür. Seine Stimme klang vorsichtig, als wäre er unsicher, wie es heute Morgen zwischen uns stand, nachdem wir uns tagelang nicht gesehen hatten. Seine Haare standen nach dem Duschen wirr in alle Richtungen ab und er trug ein Hemd mit Kragen, in dem er trotz seiner zerrupften Erscheinung und der Jeans seltsam formell wirkte. Mein Inneres schien zu schreien: Sam, Sam, endlich Sam.
»Hi«, sagte ich und musste einfach grinsen. Ich biss mir auf die Lippe, doch das Lächeln blieb und wurde nur noch breiter, als es sich in Sams Gesicht spiegelte. Ich stand da, unter seinen Papiervögeln, in den Laken unter mir noch immer der Abdruck meines Körpers, und ließ Sam nicht aus den Augen. Die Sonne tauchte mich und ihn in ihr warmes Licht und meine Sorgen von letzter Nacht schienen plötzlich winzig im Vergleich zum strahlenden Glanz dieses Morgens.
Plötzlich war ich überwältigt von dem Gedanken daran, was für ein unglaublicher Mensch dieser Junge war, der da vor mir stand, und dass er mir gehörte, genauso wie ich ihm.
»Im Moment«, begann Sam – und ich sah, dass er die Rechnung für den heutigen Studiotermin in der Hand hatte, zu einem Vogel mit in der Sonne leuchtenden Flügeln gefaltet –, »ist es schwer vorstellbar, dass es irgendwo auf der Welt regnet.«
KAPITEL 30
COLE
Ich wurde den Geruch ihres Blutes in meiner Nase nicht los. Als ich wieder am Haus ankam, war Sam weg. Es stand kein Auto in der Einfahrt und das ganze Haus schien verlassen; meine Schritte hallten in den leeren Fluren. Ich stürzte in das untere Badezimmer – die Badematte lag immer noch zusammengeschoben da, von gestern, als ich Sam dort hingezerrt hatte – und drehte das Wasser so heiß auf wie möglich. Dann stellte ich mich in die Wanne und sah zu, wie das Blut in den Abfluss lief. Im trüben Licht, das durch den Duschvorhang drang, wirkte es fast schwarz. Ich rieb die Handflächen aneinander und rubbelte mir über die Arme, um auch die letzte Spur des Bluts loszuwerden, aber so fest ich auch schrubbte, ich konnte die Hirschkuh immer noch riechen. Und jedes Mal, wenn mir ihr Geruch wieder in die Nase stieg, sah ich sie vor mir. Dieser dunkle, resignierte Blick, mit dem sie mich ansah, während ich auf ihre Eingeweide starrte.
Dann erinnerte ich mich daran, wie Victor mich angesehen hatte,
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