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Ruht das Licht

Ruht das Licht

Titel: Ruht das Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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unterschiedlich sein konnten. Irgendetwas in ihren tiefschwarzen Augen löste einen Schmerz in meiner Brust aus. In ihrem Blick lag … Geduld. Oder Vergebung. Sie hatte sich in ihr Schicksal gefügt, bei lebendigem Leib gefressen zu werden.
    »Verdammt«, flüsterte ich und stand langsam auf, um sie nicht noch mehr zu erschrecken. Sie rührte sich kein bisschen. Nur dieses Blinzeln. Ich wollte mich von ihr entfernen, ihr die Möglichkeit zur Flucht geben, aber die frei liegenden Knochen und Innereien sagten mir, dass es dafür ohnehin zu spät war. Ich hatte ihren Körper bereits zu sehr zerstört.
    Ich fühlte, wie sich meine Lippen zu einem bitteren Lächeln verzogen. Das war er also, mein brillanter Plan, einfach aufzuhören, Cole zu sein, und in die Vergessenheit zu sinken. Das war er also. Nackt und vom Tod befleckt stand ich da, mein leerer Magen krümmte sich vor Hunger und vor meinen Augen lag ein Festmahl für ein Wesen, das ich nicht mehr war.
    Die Hirschkuh blinzelte wieder, ihr Gesicht wirkte so sanft. Mir drehte sich der Magen um.
    Ich konnte sie nicht so zurücklassen. Das war das Problem. Ich konnte es einfach nicht. Mit einem flüchtigen Blick checkte ich die Umgebung – es waren vielleicht zwanzig Minuten Fußweg zu dem Schuppen im Wald. Dann noch mal zehn zu Becks Haus, wenn ich im Schuppen nichts fand, womit ich sie töten konnte. Vierzig bis sechzig Minuten, die sie mit herausquellenden Gedärmen hier rumliegen müsste.
    Ich hätte einfach weggehen können. Sie lag ja sowieso im Sterben. Das ließ sich ohnehin nicht mehr ändern und wie viel zählte schon das Leid einer einzelnen Hirschkuh?
    Wieder blinzelte sie, still und geduldig. Viel – es zählte viel.
    Ich sah mich nach irgendwas um, was ich als Waffe hätte benutzen können. Keiner der Steine am Seeufer wäre groß genug gewesen, aber ich konnte mir sowieso nicht vorstellen, sie totzuschlagen. Ich durchforstete mein Gehirn nach allem, was ich über Anatomie, tödliche Autounfälle und sonstige Katastrophen wusste. Dann fiel mein Blick wieder auf ihren offenen Brustkorb.
    Ich schluckte.
    Es dauerte nur einen Moment, bis ich einen Zweig gefunden hatte, dessen Ende scharf genug war.
    Ihr Auge richtete sich auf mich, schwarz und unergründlich, und eines ihrer Vorderbeine zuckte, als erinnerte sie sich daran, wie sie einst durch den Wald gesprungen war. Etwas Ehrfurchtgebietendes lag in dieser Angst, die hinter Schweigen gefangen war. In diesen stummen Gefühlen, die nicht mehr ausgelebt werden konnten.
    »Es tut mir leid«, sagte ich zu ihr. »Ich will nicht grausam sein.«
    Ich rammte ihr den Stock zwischen die Rippen.
    Einmal.
    Noch einmal.
    Sie schrie. Es war ein schriller Schrei, weder menschlich noch tierisch, sondern irgendetwas Schreckliches dazwischen. Ein Laut von der Sorte, die man nie wieder vergisst, egal, wie viele schöne Dinge man danach hört. Dann war sie plötzlich still, denn ihre durchlöcherten Lungen waren leer.
    Sie war tot und ich wollte es auch sein. Ich musste herausfinden, wie ich ein Wolf bleiben konnte. Das hier ertrug ich einfach nicht länger.

KAPITEL 29
GRACE
    Ein Klopfen an meiner Zimmertür weckte mich, auch wenn ich nicht das Gefühl hatte, geschlafen zu haben. Ich schlug die Augen auf; in meinem Zimmer war es dunkel. Der Wecker zeigte an, dass es Morgen war, aber noch sehr früh. Die Leuchtziffern verkündeten 5:30.
    »Grace«, hörte ich die Stimme meiner Mutter, zu laut für halb sechs Uhr morgens. »Wir müssen noch mit dir reden, bevor wir fahren.«
    »Fahren? Wohin?« Meine Stimme war nur ein verschlafenes Krächzen.
    »Saint Paul«, sagte Mom und jetzt klang sie ungeduldig, als hätte ich das wissen müssen. »Bist du präsentabel?«
    »Wie könnte ich denn um fünf Uhr morgens präsentabel sein?«, murrte ich, aber ich machte eine bestätigende Handbewegung, denn ich trug wie immer nachts ein Top und eine Schlafanzughose. Mom drückte auf den Lichtschalter und ich kniff in der plötzlichen Helligkeit die Augen zusammen. Ich hatte kaum Zeit zu bemerken, dass Mom ihre flattrige Messebluse trug, als auch schon Dad hinter ihr im Türrahmen erschien. Beide schoben sie sich nun in mein Zimmer. Moms Lippen waren zu einem angespannten, geschäftsmäßigen Lächeln verzogen, während Dads Gesicht aussah wie das einer Wachsfigur. Ich konnte mich nicht erinnern, die beiden schon mal so verkrampft erlebt zu haben.
    Sie warfen sich einen Blick zu; ich konnte praktisch die Sprechblasen über ihren Köpfen

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