Ruht das Licht
Finger wanderten zu seiner Serviette und verharrten dann. »Mit Papier könnte ich besser nachdenken.«
»Papier hab ich nicht, aber –« Ich hielt ihm einen Kuli aus meiner Handtasche hin.
Sein Gesicht sah plötzlich ganz anders aus. Er beugte sich über die Serviette und zeichnete ein kleines Diagramm. »Siehst du … Kälte senkt die Körpertemperatur und gibt dem Hypothalamus das Signal, einen warm zu halten. Darum zittert man. Der Hypothalamus macht sowieso jede Menge anderes spaßiges Zeug, zum Beispiel … zum Beispiel bestimmt er, ob man Frühaufsteher ist oder nicht, sagt dem Körper, er soll Adrenalin herstellen und wie viel Fett er speichern soll und –«
»Macht er nicht«, widersprach ich. »Das denkst du dir doch aus.«
»Nein, wirklich.« Coles Gesicht war vollkommen ernst. »So sah bei uns zu Hause der Small Talk beim Abendessen aus.« Er fügte seinem Serviettendiagramm noch einen Kasten hinzu. »Stellen wir uns mal vor, dass die Kälte dem Hypothalamus noch ein paar andere Signale gibt.« Er schrieb »Sich in einen Wolf verwandeln« in den neuen Kasten. Dabei riss die Serviette ein bisschen ein.
Ich drehte sie zu mir um, um seine Handschrift – zackige, unregelmäßige Buchstaben, die sich dicht aneinanderdrängten – richtig herum lesen zu können. »Und wie passt die Meningitis da rein?«
Cole schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Aber das könnte die Erklärung dafür sein, dass ich gerade ein Mensch bin.« Ohne die Serviette wieder zu sich zurückzudrehen, schrieb er in Großbuchstaben quer über seinen Hypothalamuskasten: METH.
Ich sah ihn an.
Er wich meinem Blick nicht aus. In der Nachmittagssonne waren seine Augen unglaublich grün. »Man hört doch immer, dass Drogen einem die ganzen Schaltkreise im Hirn durcheinanderbringen. Tja, ich glaube, das stimmt.«
Ich sah ihn weiter an. Es war offensichtlich, dass er auf einen Kommentar zu seiner Drogenvergangenheit wartete.
Stattdessen sagte ich: »Erzähl mir was von deinem Vater.«
COLE
Ich weiß nicht, warum ich ihr von meinem Vater erzählt habe. Sie war ja nicht gerade die mitfühlendste Zuhörerin, die man sich vorstellen kann. Aber vielleicht hab ich es ihr auch genau deswegen erzählt.
Den ersten Teil verschwieg ich allerdings. Und der geht so: Es war einmal ein Junge – bevor er als gefesselter Wolf auf der Laderampe eines Chevy Tahoe landete, als es noch keinen Club Josephine, kein NARKOTIKA gab –, ein Junge namens Cole St. Clair und die Welt lag ihm zu Füßen. Und die Last dieser unzähligen Möglichkeiten war so unerträglich, dass er sich selbst zerstörte, bevor sie es tun konnte.
Stattdessen fing ich so an: »Es war einmal ein Junge, ich, und mein Vater war ein verrückter Professor. Eine Legende. Er war ein Wunderkind, dann wurde er zum Teenagergenie und dann zu einem Halbgott der Naturwissenschaft. Er war Genetiker. Er sorgte dafür, dass Babys hübscher wurden.«
Isabel sagte nicht: Klingt doch gar nicht schlecht, sondern runzelte bloß die Stirn.
»Und das war auch alles wunderbar«, fuhr ich fort. Und es war auch wunderbar gewesen. Ich erinnerte mich an Fotos, auf denen ich auf seinen Schultern saß und das Meer um seine Waden rauschte. Ich erinnerte mich an lange Autofahrten und die Spiele, die wir dabei gespielt hatten; die Antworten waren nur so zwischen Vorder- und Rücksitz hin- und hergeflogen. Ich erinnerte mich an erbeutete Schachfiguren, die stapelweise neben dem Brett lagen. »Er war nicht oft da – aber na ja, das hat mir nichts ausgemacht. Wenn er zu Hause war, war alles perfekt, und mein Bruder und ich hatten eine tolle Kindheit. Ja, alles war perfekt, bis wir älter wurden.«
Ich konnte mich kaum erinnern, wann Mom es zum ersten Mal gesagt hatte, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass das der Moment war, in dem alles anfing zu zerbrechen.
»Diese Spannung bringt mich noch um«, bemerkte Isabel sarkastisch. »Was hat er denn jetzt Schlimmes gemacht?«
»Er? Nichts«, sagte ich. »Ich. Was habe ich gemacht?«
Was hatte ich gemacht? Ich muss einen cleveren Kommentar zu irgendetwas in der Zeitung abgegeben haben, gut genug in der Schule gewesen sein, dass ich eine Klasse überspringen durfte, ein Rätsel gelöst haben, von dem sie nicht gedacht hatten, dass ich es schon lösen könnte. Eines Tages sagte Mom es zum ersten Mal, ein Lächeln auf dem länglichen, unscheinbaren Gesicht, das immer müde wirkte – vielleicht, weil sie schon so lange mit einem Genie verheiratet war. Sie sagte:
Weitere Kostenlose Bücher