Ruht das Licht
»Rate mal, wem er nachschlägt.«
Der Anfang vom Ende.
Ich zuckte mit den Schultern. »In der Schule hab ich problemlos meinen Bruder überholt. Mein Dad wollte, dass ich mit ins Labor komme. Er wollte, dass ich Kurse am College belegte. Er wollte, dass ich werde wie er.« Ich hielt inne, dachte an all die Male, als ich ihn enttäuscht hatte. Schweigen war immer, immer schlimmer als Schreien. »Ich war nicht er. Er ist ein Genie. Ich bin keins.«
»Na und?«
»Das hab ich damals auch gedacht. Aber er nicht. Er wollte wissen, warum ich es nicht wenigstens versuchte. Warum ich in die entgegengesetzte Richtung davonrannte.«
»Und was lag in der entgegengesetzten Richtung?«
Ich starrte sie an, sagte nichts.
»Guck mich nicht so an. Ich versuche ja gar nicht rauszukriegen, wer du bist. Ist mir egal, wer du bist. Ich will nur wissen, warum du so geworden bist.«
Genau in diesem Augenblick wackelte der Tisch ein bisschen und ich sah hoch in drei strahlende, picklige Mädchengesichter. Alle kurz vor dem Teeniealter. Jedes der drei Augenpaare hatte sich in einem breiten, hysterischen Grinsen zu halbmondförmigen Schlitzen verengt. Ihre Gesichter sagten mir nichts, aber an der Haltung erkannte ich sie sofort; mir war klar, was sie sagen würden.
Isabel sah sie an. »Äh, hört mal, wenn ihr hier Pfadfinderkekse verkaufen wollt, könnt ihr gleich wieder gehen. Ach was, ihr könnt so oder so gleich wieder gehen.«
Das Anführermädchen mit den Kreolenohrringen – Knöchelhalter , hatte Victor immer gesagt – streckte mir ein rosa Notizbuch hin. »Ich glaub es einfach nicht. Ich wusste, dass du nicht tot bist. Ich hab’s gewusst! Gibst du mir ein Autogramm? Bitte?«
»Ohmeingott«, seufzten die anderen beiden im Chor.
In dem Moment hätte ich wohl in Panik geraten sollen, weil ich erkannt worden war. Aber alles, woran ich bei ihrem Anblick denken konnte, war das: Ich hatte in unzähligen Hotelzimmern gehockt und Höllenqualen gelitten, um diese brutalen, tiefgründigen Songs zu schreiben, und nun bestand meine Fangemeinde aus kichernden Zehnjährigen in High School Musical-Shirts. Kinderparty mit NARKOTIKA .
Ich sah wieder auf und fragte: »Wie bitte?«
Einen Augenblick lang sahen sie enttäuscht aus, aber das Mädchen mit den Ohrringen zog das Notizbuch nicht zurück. »Bitte«, wiederholte sie. »Kannst du mir ein Autogramm geben? Danach lassen wir dich auch in Ruhe, versprochen. Ich bin fast gestorben, als ich Break My Face zum ersten Mal gehört habe, ich hab auch den Klingelton. Ich liebe dieses Lied, es ist echt das allerbeste, das je geschrieben wurde. Ich hab voll geweint, als du verschwunden bist. Ich hab tagelang nichts gegessen. Und ich hab auch die Liste unterschrieben, die von den Leuten, die sicher sind, dass du noch lebst. Oh mein Gott, ich kann es echt nicht glauben! Du lebst! «
Eins der beiden anderen Mädchen weinte tatsächlich, schier blind vor Glück, mich hier mit schlagendem Herzen sitzen zu sehen.
»Ach so«, sagte ich und log lässig weiter, »ihr denkt, ich bin – ja klar, passiert mir oft. Obwohl, jetzt schon länger nicht mehr. Aber nein, der bin ich nicht.« Ich spürte Isabels Blick auf mir.
»Was?« Jetzt machte das Ohrringmädchen wirklich ein langes Gesicht. »Du siehst aber genau aus wie er. Total süß.« Sie lief so dunkelrot an, dass es wehtun musste.
»Danke.« Geht doch bitte einfach weg.
»Bist du es wirklich nicht?«, hakte das Ohrringmädchen nach.
»Wirklich nicht. Ihr könnt euch ja gar nicht vorstellen, wie oft ich das am Anfang gehört habe, als es in den Nachrichten war.« Ich zuckte entschuldigend mit den Schultern.
»Kann ich denn wenigstens ein Handyfoto machen?«, bat sie. »Um es meinen Freunden zu zeigen?«
»Ehrlich gesagt lieber nicht«, lehnte ich beklommen ab.
»Soll heißen: Verpisst euch«, schaltete Isabel sich ein. »Und zwar sofort.«
Die Mädchen warfen Isabel bitterböse Blicke zu, dann drehten sie sich um und steckten tuschelnd die Köpfe zusammen. Wir konnten jedes Wort verstehen. »Der sieht aber wirklich genauso aus wie er«, sagte eine von ihnen wehmütig.
»Also, ich glaube, er ist es auch«, verkündete das Ohrringmädchen. »Er will bloß nicht gestört werden. Sicher ist er untergetaucht, um der Presse zu entgehen.«
Isabels Blick brannte mir auf der Haut. Sie wartete auf eine Erklärung.
»Doppelgänger«, sagte ich.
Die Mädchen hatten sich wieder an ihren Tisch gesetzt. Das Ohrringmädchen reckte sich noch einmal über
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