Rumgurken: Reisen ohne Plan, aber mit Ziel (German Edition)
Frage, wie es eigentlich dem Baumeister geht, der hier diesen traurigsten aller Bahnhöfe gebaut hat: Kann er ruhig schlafen. Steigt er selbst hier gerne um? Kann die primäre Eigenschaft dieser Stadt, dass man nämlich in ihr in erster Linie umsteigt, sie und ihre Lebensqualität ent- oder aufwerten?
Ich hab noch eine andere Art, um mich vor Umweltgeräuschen zu schützen, sie ist etwas kompliziert: Man erzeugt im Nasenrachenraum einen Überdruck durch Kontraktionen des Gaumensegels, sodass durch die Eustachischen Röhren die Trommelfelle nach außen gebläht werden. In der Folge können die Schallwellen nur unzureichend in den Gehörgang dringen, ich bin dann zwar nicht ganz taub, aber höre alles nur noch dumpf. Das funktioniert eine Zeitlang, ist aber anstrengend, man bekommt schnell einen Rachenkrampf.
Der Mann schreit weiter seine Sinnlosigkeiten ins Telefon. Jetzt könnte ich ja auch zu ihm hingehen und sagen, dass er hier alle belästigt, aber dabei, ich hab’s ein paarmal ausprobiert, riskiert man, dass die Leute aggressiv werden, einen wahlweise als Vollnazi, dreckiger Kommunist oder Schwuchtel beschimpfen. Solchen Leuten mit Laotse zu kommen, der mal gesagt haben soll, die größte Offenbarung sei die Stille, oder ihnen zu erzählen, dass mit jedem Telefonat eine Elfe stirbt, hat natürlich keinen Zweck, da holt man sich unter Umständen gar Backenfutter ab.
Der Mann begeht bei seinem dritten Telefonat einen Fehler: Er spricht einem anderen Teilnehmer seine Nummer auf die Mailbox, man möge ihn doch bitte zurückrufen. Ich habe mitgeschrieben und schicke ihm nun eine SMS.
«Wo ist Lefty?»
Er schreibt zurück: «Ha?»
Ich: «Lefty ist nicht zum vereinbarten Termin gekommen, jetzt sitze ich hier mit der ganzen Kohle.»
Er: «He Hawara huach zua I was ned amoi wer du bist ok?»
Ich: «Du Fotzenkobold, jetzt ist deine Wohnung voller Kibara [1] irgendwer hat gesungen, wenn du zhaus kummscht, wirst du nichts mehr wiederfinden, mir fehlt bereits der rechte Schuh.»
Er: «Wer bist du?»
Ich: «Lefty»
Dann kam nichts mehr. Telefoniert hat er auch nicht mehr. Ruhe ist etwas Herrliches, man muss nur wissen, auf welchem Weg man zu ihr gelangt.
Ich war mal Kunstgroupie, das heißt, ich fuhr regelmäßig zur Documenta nach Kassel, zur Biennale nach Venedig, zur Art Basel, solchen Großereignissen, und inhalierte gleichsam die Kunst. Das ging natürlich nur so lange gut, etwa bis Anfang der neunziger Jahre, bis die beigefarbenen Rentner kamen, «flott» frisierte Frauen mit Lattepappbechern in den Händen, Männer, apathisch wie üblich, mit ausgeleierten Prostatas, die sich in ihren Gesichtern fortsetzten (die Zeit der harten Eier und des Hagebuttentees war längst vorbei), und die Kunst, wie alles in Deutschland früher oder später, zum «Event» verkam (Bundesgartenschau, Kirchentag, Songcontest), wo man sein musste. Man fuhr in Bussen hin und legte den Kopf schief vor der Kunst, weil eben alle den Kopf schief legten, Deutschland, das Land der rätselhaften Rudel, des Rhythmus, wo jeder mitmuss, immer.
In Basel bei der Art Fair, die mir damals ganz besonders Spaß machte, weil die neurotischen Händler im erregenden Kontrast zu den ausgelegten Fallen an der Wand standen, wie hungrige Spinnen in ihren Netzen. Hier sah ich an einem Stand eine von Jean Michel Basquiat beschmierte Tür. Das muss so etwa 1980 gewesen sein, als Basquiat gerade entdeckt wurde. Die Tür kostete 10000 Dollar. Ich war hypnotisiert, eine profane Voodoo-Ikone, mir unerschwinglich, aber ich ahnte, dass sie so wirklich teuer nun auch wieder nicht war, Basquiat seinen Platz demnach wohl noch nicht gefunden hatte, zudem noch lebte und Spekulanten noch nicht auf ihn aufmerksam geworden waren, auch wenn ich den Teil mit den Spekulanten erst viel später begriff. Ich rief meine Mutter an und fragte, ob sie mir etwa 17000 Mark leihen könnte. Sie wollte wissen, wozu, und ich merkte schon, dass ich mich hier in etwas kompliziert zu Kommunizierendes verrennen würde, und sah davon ab, die schnöde, aber andererseits auch wieder gar nicht so schnöde Tür zu erklären. Den Künstler kannte sie natürlich nicht, von der Seite brauchte ich es also gar nicht erst versuchen. Ich murmelte nur, dass es egal sei und Basel schön, ich äße den ganzen Tag Lauchchüechli, ich könnte mich an ihnen blind fressen, und sie fragte panisch, ob ich in Not sei, etwas passiert, wieso gerade 17000 Mark? Da hätte ich nun einhaken könne, irgendein
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