Rumgurken: Reisen ohne Plan, aber mit Ziel (German Edition)
jetzt sei es zu spät für Glas, das seien jetzt diese winzigen Pappstunden, das was im Englischen die wee hours sind, sie verreibt in Gedanken (woran?) einen Rotweintropfen auf dem Resopaltisch und sieht dabei aus wie Jane Gallagher, die in «Der Fänger im Roggen» eine Träne auf einem Damefeld verreibt, Mangold tanzt eng mit Jo Lendle vom Dumont Verlag («Engtanz ist fast so schön wie Schöpfungshöhe», schluchzt Mangold), die Bachmannsiegerin von 2006 und Narkoleptikerin Kathrin Passig schläft an eine Säule gelehnt ein, zu spät, jetzt noch ein Ritalin einzuwerfen, Daniela (Strigl) ist schon ins Hotel geschlingert, am nächsten Tag liest ihr «Pferdchen», Maja Haderlap, eine Kärntner Slowenin, die auch am Sonntag den Bachmannpreis gewinnen wird, das ist jedem klar, auch uns, dem Strandgut im Theatercafé, selbst der Veronikasphinx. Haderlap war fünfzehn Jahre im gegenüberliegenden Stadttheater Chefdramaturgin, sie und die Wirtin kennen sich natürlich schon ewig und drei Tage.
Um sieben Uhr ist Schluss, die Nacht ist unbemerkt weitergezogen, wir haben es nicht mitbekommen, alle müssen nach Hause gehen. Wawerzinek, der Gute, hilft Frau Veronika, die Restgäste aus der Wirtschaft zu kehren, in drei Stunden beginnt das Tagesgeschäft und der letzte Tag des Bachmannwettbewerbs. Die Siegerin steht fest, jetzt kann man eigentlich abreisen, wir sehen uns dann nächstes Jahr wieder, gleiches Ritual, neue Tränen.
[zur Inhaltsübersicht]
Zwei Türen
Du hast mir die Pfanne versaut, du Spiegelei des Terrors.
René Pollesch
Ich bedaure, dass nicht mehr mit Eiern verreist wird. Früher war das anders, da war es normal, dass im Sechserabteil immer welche waren, die aus abgegrabbelten Aktentaschen Stullen zogen, Thermoskannen mit Hagebuttentee und eben hartgekochte Eier, das ganze Abteil ein Odeur von protestantischem Verzicht und Vertreibung aus dem Paradies oder aus Schlesien. Zugrestaurants waren Luxus, so wie Autobahnraststätten, man mag es kaum glauben, Orte, die früher edel waren, sind heute bessere Drückerstuben, und deshalb bedaure ich die fehlenden Eier im Zug. Einmal saß ich in einem Abteil mit einer Horde alter, Wirsing ausdampfender Frauen und einem zerknüllten Greis, der überraschenderweise aus einem Geigenkoffer irgendwann einen frugalen Mundvorrat zauberte, für sich und seinen Harem. Ich fand dieses gilbende Idyll im Bescheidenen schwer erträglich, nicht aus Verachtung oder Horror oder Rührung, sondern weil ich generell nicht gerne Zaungast bin in Runden Essender, Essen ist nicht anders als das, was am hinteren Ende des Metabolismus stattfindet, ein intimer Akt, sollte er eigentlich sein, man sollte die Segnungen des täglichen Brotes nicht geringschätzen, indem man den Verzehr desselben unter Zeugen erledigt, weshalb ich mich dezent und rücksichtsvoll zurückzog. Ich ging also aufs Zugklo und wedelte mir gemütlich einen von der Palme. Als ich zurückkam, war meine kleine Mitreisegruppe fast fertig, jeder hatte noch einen dampfenden Bakelitbecher Hagebuttentees in den ganz aus Gicht gemachten Händen. Ich widmete mich wieder meiner Lektüre, einem «Fix und Foxi Extra», der Vierteljahresschrift aus dem Hause Kauka, lachte inwendig über Bobo, den Ausbrecherversager, und Smutje, den lebensüberdrüssigen Koch, meine Mitreisenden sandten mir immer wieder freundliche Blicke zu, irgendwann, vermutlich in Göttingen, solche Leute stiegen immer in Göttingen aus, verabschiedeten sie sich freundlich, der zerknüllte Mann zwinkerte mir zu. Als ich endlich alleine war, sah ich auf meinem Schuh einen dicken Klecks Sperma, viele Dinge und Bilder rasten nun in meinen, jetzt warmen Synapsen zusammen, aber ich kann nicht sagen, dass ich mich schämte oder mir irgendwie verwegen vorkam, ich sog einfach zufrieden den Restodeur aus Eiern, Graubrot und Gilb, den die Gruppe hier stehen gelassen hatte, ein und freute mich über den Film, den ich ihnen vielleicht mitgegeben habe, während ich mit dem anderen Schuh meine Millionen Kinder verrieb, bis das Oberleder eitel zu glänzen begann. Wer weiß, ob die Mitreisenden die Keimzellen überhaupt als solche wahrgenommen haben.
Heute ist alle Bescheidenheit verschwunden, Demut futsch, heute stehen uns die Leute im Weg, denken nicht nach, küssen sich zur Begrüßung, umarmen sich, lassen sich tätowieren, glotzen einen stumpf an, blockieren alles rücksichtslos, rammen sich in Bussen und Bahnen schamlos transfetttriefende Pizzakeile in die Schlünder, sind
Weitere Kostenlose Bücher