Rumgurken: Reisen ohne Plan, aber mit Ziel (German Edition)
innendrin.
Zwei DJs, ein alter Mann mit zerknüllten Haaren und ein junges, streichholzblondes Mädchen, wahrscheinlich seine Tochter, stark tätowiert, legen wunderschöne, hämostatische (blutgerinnende) Musik auf. Ihr Motto «Evergreens of Psychoterror» ist irreführend, denn gequält wird hier niemand, im Gegenteil, gestreichelt wird man und gekost und belohnt (wofür auch immer) mit Martin Denny, den Ray Conniff Singers, Cal Tjader und Eddie Palmieri, Musik, die so dezent ist, dass man nicht genau weiß, träumt man gerade vom Schlaf oder ist man hier soeben aus der Kohlenstoffwelt in eine Wahrnehmungsritze gefallen, und so traumhaft wirkt das hier alles, dieser wunderschöne Hafen und das wunderschöne Mädchen mit seinen Platten und den garstigen Tätowierungen («Dubrovnik Werewolves»), man hat ihr den Greis an die Seite gestellt, damit sie noch mehr strahlt.
Jungliterat Thomas Klupp, der 2009 mit «Paradiso» eines der gelungensten Debüts im deutschsprachigen Raum vorgelegt hat, vergleichbar vielleicht mit Benno Pludras «Ein Mädchen, fünf Jungen und sechs Traktoren», er hat am Vormittag siegessicher eine altbackene Pornofarce vorgetragen, hängt jetzt angezählt in einem der Liegestühle, neben ihm die anbetungswürdige Zita Bereuter, Literaturchefin bei FM 4, dem Jugendradioableger des ORF. Sie interviewt ihn, oder versucht es zumindest, aber dem Mund in seinem unharmonischen Gesicht entweicht nur das gespielte gutturale Desinteresse desjenigen, der mit einem Zuviel an Optimismus geschmiert ist. Sein verhangener, fränkischer Blick klebt auf Zitas Reitstiefeln und Breeches, und neben ihm im Kies liegt sein Fahrrad, auf dem Gepäckträger ein Blumenstrauß, den er sich vermutlich selbst geschenkt hat. (Später wird er dann lediglich den Publikumspreis bekommen, den erhält derjenige, der im Vorfeld die kopfstärkste und klickwilligste Internetgemeinde hinter sich hat versammeln können.) Dann kommt prompt und wie bestellt, so als müsse er das Bild von der Idylle, das Klupp ein bisschen durcheinandergebracht hat, wieder zurechtrücken, einer von den vielen Peter Wawerzineks vorbei, rollt seine Einmetervierzig vom Kinderrad und tanzt mit sich selbst einen kleinen Jitterbug zu Andy Williams’ «Music to Watch Girls By». So wie diesen Abend stellt man sich einen idealen Übergang von einem Leben ins nächste vor, aber jetzt gerade soll doch bitte diese winzige Subraumverzerrung niemals aufhören, geht das? Die Hafengäste, allen voran der kregele Ijoma Mangold, stellvertretender Feuilletonchef der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT, betteln um noch ein Lied und noch ein Lied, immer wieder schreit er aus heiserer Kehle, wie einst Bram Tchaikovsky: «Dancing the Night Away», so als wolle er den Augenblick auswringen, er hüpft umher wie ein Wassertropfen auf einer heißen Herdplatte oder wie Rainald Goetz im Wiedehopfkostüm auf der Loveparade. Aber um zwei Uhr wird der Hafen gewissermaßen hochgeklappt, den DJs wird der Saft abgedreht, als letztes Lied weist Johnnie Rays inbrünstige Minioper «Look Homeward Angel» in den Morgen, Johnnie Ray, der auf einem Ohr taub war, der von seinen eigenen Liedern dermaßen ergriffen war, dass er bei Auftritten regelmäßig haltlos heulen musste und zitternd und wimmernd auf der Bühne zusammenbrach. Es ist eigentlich eine sadistische Perfidität, die Menschen so einfach nach Hause zu schicken, weinend, nein, das ist noch nicht das Ende, darf es nicht sein, deshalb geht man noch ins Theatercafé, alle gehen ins Theatercafé, in ihm ist man beschützt, hier regiert Veronika, die gnädige Herrin, man kann nicht aufhören sie anzusehen, das rätselhafteste Sphinxlächeln, das man zu der Uhrzeit, nein, zu jeder Uhrzeit bekommen kann, denn das Theatercafé hat eigentlich immer offen. Es ist so angenehm finnisch hier, die Resopaltische, das Licht, die förmlich greifbare Trauer, die wattiert unter schwachen Witzen atmet, nichts wird beschönigt, Ironie muss draußen bleiben, Clowntime is over . Mangold hat sich eine Sonnenbrille aufgesetzt, dass man seine Tränen nicht sieht, denn auch Frau Veronika setzt mit ihrer Musikauswahl auf unheimliche Weise das fort, was man eben am kleinen Hafen mitgenommen hat, sie rasiert ihre Gäste kalt mit Laibachs ätherischer Version des John-Lennon-Klassikers «Across the Universe» («Words are flowing out like endless rain into a paper cup»). Die schöne Zita füllt ihren Rotwein aus einem Glas in einen Pappbecher um, sie meint,
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