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Rumgurken: Reisen ohne Plan, aber mit Ziel (German Edition)

Rumgurken: Reisen ohne Plan, aber mit Ziel (German Edition)

Titel: Rumgurken: Reisen ohne Plan, aber mit Ziel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tex Rubinowitz
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seit einiger Zeit in Wien, weil er mit der Geschwindigkeit der Gentrifizierung in seiner Heimatstadt Berlin nicht mithalten kann und mag. In den Osten, «da, wo alles begann, da, wo wir alle herkommen», will er hingegen gerne. Er soll mir einerseits mit profundem Fachwissen sekundieren, andererseits aber auf sogenannte Rückschaufehler achten, Unschärfen, die sich bei zu großem Überschwang in den Nachbericht einschleichen könnten.
    Im Flieger bestellt Lottmann zunächst einen Sekt, schaut ein bisschen Mr. Bean, über den er Tränen lacht, dann verschläft er den größten Teil des vierstündigen, größtenteils rumpeligen Fluges in der Turbopropmaschine.
    Lottmann ist, dies nur zum besseren Verständnis, Songcontestexperte ersten Ranges, so muss man das nennen, allerdings nur der ersten und der zweiten Phase, also der sechziger und frühen siebziger Jahre, «dann kam Johnny Logan, und ein Traum ging zu Ende». Nun, diese Einschätzung teile ich nicht; gerade in den letzten Jahren waren doch ein spürbares Wiedererstarken und ein Niveauzugewinn zu registrieren. Wir beide können uns hier jedenfalls mit Wissen ergänzen und durch historische Bezüge dort, wo es nötig ist, relativieren.
    Dennoch vertritt Lottmann die gewagte These, durch die rätselhaften Erfolge Aserbaidschans (zuletzt Safura mit «Drip Drop») liege es durchaus im Bereich des Möglichen, dass das Land dieses Jahr gewinnt. «Die Chancen sind so klein nicht», raunt Lottmann, und deutet mit Zeigefinger und Daumen einen kleinen Raum an, in den gerade eine Pistazie passen könnte, ein Hinweis vielleicht auf die letzten Pistazienwälder der Welt, die hier in diesem Land noch rauschen.
    Auf der Taxifahrt ins Örtchen sind wir unisono entsetzt. Was haben sie aus dieser einstmals so prachtvollen sozialistischen Stadt gemacht? Alles abgerissen und durch lachhafte pseudoklassizistische Disneylandarchitektur ersetzt, ganze Straßenzüge prächtigster Plattenbauten, Hochhäuser, Denkmäler – bis auf das von Stalin – abrasiert, keine Geschichte wird gemacht, und an das Hafenbecken, die Baki Buxtasi, die Bucht Bakus, leckt ermattet nachtschwarz das ölfilmschillernde Meer Transkaspiens, während die transsexuellen Gunstgewerblerinnen am Kai stehen und den Matrosen den Kopf verdrehen, in nicht großer Ferne die Ölbohrtürme, an deren Spitzen das mindere Gas abgefackelt wird, züngelnde Fingerzeige der Verschwendung und des Überflusses, und das manifestiert sich hier in der rohen baulichen Zerstörung dessen, was einstmals Baku war, der Verheißung des Glücks in einem Außenposten großer trauriger Repression.
    Lottmann, der sich physiognomisch aus der Schnittmenge von Rainer Hunold («Ein Fall für zwei») mit Inspektor Issel aus Walt Disney’s lustigen Taschenbüchern zusammensetzt, ist indigniert. Ein Himmelfahrtskommando, in das ich ihn da «hineingeritten» habe, so sein Vorwurf. Unser Quartier ist im Möbelviertel der Stadt (Mebel). Viertel ist untertrieben, die ganze Stadt scheint aus Möbelwerkstätten und -geschäften zu bestehen. Mit irgendetwas müssen sie ihre vielen vielen neuen Gebäude befüllen, und Zimmer sind nicht genug, es müssen auch Möbel sein, stinkende Möbel, unser Hotelzimmer müffelt dann auch beißend nach Holzleim, so werden die Möbel, so wird das Zimmer, das Haus, die ganze Stadt zusammengehalten, wie froh wäre man gewesen, wenn man von köstlichem Öl- oder Benzinodeur empfangen worden wäre.
    Aus Lottmanns schreckensgeweiteten Augen bricht sich ein stummer Schrei der Ratlosigkeit Bahn: Was machen wir hier eigentlich? Wer bin ich? Was, wenn nicht das eintritt, weswegen wir hier sind? Erstmals einer Revolution beizuwohnen, das war der Plan, die in Leipzig hatte er (Lottmann) buchstäblich verschlafen, die samtene und die orangene, die französische, die Nelkenrevolution, den Tahrirplatz, kannte man alles nur aus dem Fernsehgerät, jetzt war zum Greifen nahe, wie ein korruptes schiitisches Regime durch eine schwule Schlagerparade zu Fall gebracht wird, kraft der Federboa und des Trickkleids, ein Flächenbrand entsteht und erreicht den Nachbarn Iran, die Keimzelle des Grusels. Aber was, wenn Aserbaidschan nicht gewinnt, wenn das alles nicht eintritt, weswegen wir hier sind? «Der neunte Platz ist gar nicht schlecht», wie Wencke Myhre einst sang, in ihrem Beitrag «Ein Hoch der Liebe» für Deutschland 1968, mit dem sie aber dennoch den sechsten Platz holte, wäre das ein Trost für uns? Als ich Lottmann das zur

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