Rumgurken: Reisen ohne Plan, aber mit Ziel (German Edition)
(«Zu einer Antwort, die man nicht aussprechen kann, kann man auch die Frage nicht aussprechen. Das Rätsel gibt es nicht. Wenn sich eine Frage überhaupt aussprechen lässt, so kann sie auch beantwortet werden»), ein so schwerfälliges wie schwermütiges Tier von einem Lied, das da mit dramatischer Chor- und Orchesterbegleitung ratlos durchs Unterholz unserer Logik kriecht wie ein Lemur.
Momus ist begeistert, und am meisten verblüfft ihn, dass hier von den vertikalen Gästen niemand murrt. Das sei eben die typische resignative Toleranz der Finnen, sage ich und hoffe nur inständig, dass Numminen nicht auftaucht in diesem Moment, wo sie etwas von ihm spielen, vielleicht ist ihm das unangenehm. Aber das Lied ist bereits aus, als der Barde die Bar betritt. Er freut sich wie ein Kind. Das ist immer so, er grinst von einem Ohr zum anderen, ein großes Kind mit Bart und gigantischem Haarhelm auf dem zerdrückten Gesicht. Ich stelle die beiden einander vor und frage Numminen gleich, weil auch gerade ein Lied von The Agents läuft, vielleicht die wichtigste Band Finnlands, niemand vertont die finnische Mentalität so adäquat wie Esa und sein Bruder Kai Pulliainen, mit jeweils wechselnden Sängern (selbst Ville Valo war einer von ihnen), frage also den Auskenner, warum das so ist, warum das, was da jetzt gerade läuft, dieser wehmütige Rock, so beliebt ist in Finnland. Welche Saite bringt das in ihnen zum Klingen? Ich kenne natürlich die Antwort, überlasse es aber dem Fachmann, den einäugigen Schotten aufzuklären:
Als die Deutschen nach dem Krieg abzogen und das Land verwüstet und niedergebrannt der Sowjetunion überließen, die sich zur Strafe erst mal große Teile Kareliens einverleibte und nur deshalb nicht auch noch den Rest des Landes, weil Finnland zum eigenen Schutz die Neutralität annahm, verfiel die Nation in eine Art Duldungsstarre gegen das gefräßige kommunistische Riesenreich, und in dieser Zeit entwickelte sich eine große Sehnsucht nach Amerika, eine Sehnsucht, die stärker war als sonstwo in Europa, Amerika, das so weit weg ist, man war Rock ’n’ Roll, riesige amerikanische Straßenkreuzer, Plymouth Furys, Muntz Jets, Pontiac Bonneville Broughams, Kaiser Custom Cars und Studebaker Commander Starliner glitten, und tun es immer noch, aus den finnischen Wäldern in die Städte, in denen sie ihre Runden drehen, und die Musik dazu ist eben so eine verwehte, sehnsüchtige Shadows-Gitarre, dieses sogenannte twangling , das man auch von Chris Isaak («Wicked Game») kennt. In Finnland ist dieser Sound ein Haushaltsgegenstand, schon immer da und nie weg gewesen, und man könnte denken, Isaak hätte seinen Stil von hier.
Die Agents perfektionieren das am allergelungensten mit Topi Sorsakoski als Sänger, dem großen Tragöden mit Klobrillenbart, er könnte der Bruder von Matti Pellonpää sein. Topi starb im August 2011 im Alter von 58 Jahren an Lungenkrebs, ausgerechnet in Seijnäjoki. Da hab ich ihn zum ersten Mal gesehen, beim Tangomarkkinat, dem Tangomarkt, der jedes Jahr 100000 Tänzer anzieht, die vier Tage und vier Nächte, die keine Nächte sind, weil die Sonne nicht untergeht, ohne Pause schwofen, nur wachgehalten von fadendünnem Kaffee, den die Finnen ja eimerweise zu trinken pflegen, und rohen Rhabarberstangen, an denen sie knabbern. Überall am Straßenrand sind kleine Bretterbühnen aufgebaut, mit Birkenzweigen geschmückte, die Gosse ist der Tanzboden, finnischer Tango geht ja nur mit Gesang und wird eher gegangen als exaltiert getanzt, komplizierte Figuren zu inszenieren ist in Finnland verpönt, weil peinlich, und da stand eben Topi Sorsakoski mit den Agents, wand sich am Mikrophonständer, klammerte sich an ihn, so als sei er Krücke und Zepter zugleich, in einer Hand die Zigarette, ich musste heulen wie ein Seehund, er sang «Valot» (Lichter), kein Tango eigentlich, aber Sorsakoski durfte das, und dann bitte ich Numminen, Momus die Geschichte von «Valot» zu erzählen, dem vielleicht berühmtesten Lied Finnlands.
Numminen bestellt sich, bevor er erzählt, gleichzeitig einen Rotwein, eine Estragonlimonade, grün wie der Hulk, und einen Kaffee. Das macht er immer so, möglichst die ganze Getränkekarte durchtrinken, aber an allem nippt er nur, nie sah ich ihn betrunken. «Valot» ist von Rauli Badding Somerjoki, der wie Numminen aus Somero stammt, einer außergewöhnlich hässlichen Kleinstadt im Südwesten Finnlands, das Wappen ziert ein brennender Baumstumpf.
Somerjoki
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