Rumgurken: Reisen ohne Plan, aber mit Ziel (German Edition)
beherrschte kein Instrument, aber er hatte Melodien im Kopf, träumte sie sogar, und an einem nasskalten, dunklen Februarmorgen des Jahres 1971 auch jene von «Valot». Licht als Freund, Trostspender und Lebensretter, das die strangulierenden Schatten bannt, er summte das Lied vor sich hin, fuhr im Bus zum Freund Numminen, der das dann transkribieren musste, Somerjoki war fest davon überzeugt, dass das niemand anders als sein Idol, Elvis Presley, singen müsse. Sie nahmen eine Demoversion auf, schickten sie nach Memphis und warteten und warteten und bekamen keine Reaktion, nichts, der King wusste vermutlich nicht mal, wo oder was Finnland überhaupt ist.
Momus hat aufmerksam zugehört, er mochte, sagt er, die Stelle vom Summenden im Bus, und diese schier erdrückende Erwartung an eine Antwort aus Memphis, er fragt, was aus Somerjoki geworden sei. Numminen erzählt, dass sie das dann selbst aufgenommen hätten, mit Rauli als Sänger, und es zu einem riesigen Hit in Finnland wurde, es gehörte schon bald zum finnischen Musikkanon, Rauli habe aber immer so eine große Angst vor Auftritten gehabt, Angst vor den Erwartungen des Lebens generell, sei Berufsalkoholiker geworden und mit 39 gestorben, auch wenn Elvis nur drei Jahre älter wurde, hat Rauli ihn zehn Jahre überlebt. Seine Mutter habe ihn eines Morgens tot im Bett gefunden, wahrscheinlich, so Numminen, träumte er eine letzte Melodie, die vom Ausgang.
Im Ravintola Kivi (vormals Grilli Bertina), in der Kivinkatu, Raulis Lieblingslokal, einer sogenannten Keskiolutbaari (Dünnbierbar), hängt zum Gedenken an ihn sein Foto an der Wand, die dicke Brille, das dünne Haar, das verquollene, ernste Gesicht. Die Wurlitzer ist voll von seinen traurigen Liedern, da wohnt er jetzt als «Geistermann», das ist nun «seine metaphysische Existenzwiese», wie sein Freund, unser Finnlanderklärer, erklärt.
Momus, der ja vorher den Tractatusauszug gehört hat, fragt Numminen, warum dieser so in Obsession mit Paul Wittgenstein verbunden sei. Nicht Paul, korrigiert Numminen ihn, Ludwig, er finde seine Philosophie einfach «lockend und wichtig», als Poesie und Wissenschaft gleichermaßen, vor allem sein Tractatus, das sei eine verführerische Kombination, es fange mit logischen, vernünftigen Sätzen an und mäandere in metaphysischen Gedanken aus.
Aber auch Paul sei doch nicht uninteressant, so Momus, Ludwigs Bruder, der Pianist und Mäzen, dem man den rechten Arm im Ersten Weltkrieg amputieren musste, er hat 1923 bei Paul Hindemith ein Stück in Auftrag gegeben für linkshändiges Klavierspiel und auch bezahlt, nur gefiel es ihm nicht, und das Stück wurde nie aufgeführt, durfte es nicht, und geriet in Vergessenheit, bis die zerknitterten Noten nach achtzig Jahren in einem dreieinhalb Tonnen schweren, staubigen Konvolut, Hindemiths Nachlass, bei einer Auktion auftauchten. Ein Mann aus Hongkong, Besitzer einer Kette von Nudelsuppenküchen, ersteigerte sie und gab das Stück endlich frei.
Und Numminen kann ergänzen, dass Paul Wittgenstein ja auch bei Maurice Ravel ein Stück bestellt hat, es hieß pragmatisch «Klavierkonzert für die linke Hand». Ravel war bei der Uraufführung nicht anwesend, deshalb arrangierte Wittgenstein für ihn eine Soirée. Nachdem er fertig war, schrie Ravel: «Aber das stimmt doch alles gar nicht!» Seiner Auffassung nach hatte Paul Wittgenstein, genannt «Der leere Ärmel», das Stück nicht in seinem Sinne dargeboten, er sei viel zu frei und unbekümmert mit seiner Partitur umgegangen. Wittgenstein erwiderte, die Interpreten dürften keine Sklaven sein, worauf Ravel ihn zusammenfaltete: «Die Interpreten SIND Sklaven!»
Das erheitert Momus zweifach, einerseits weil er ja vorhin die groteske, über alle Maßen unbekümmerte Interpretation Numminens des Auszugs aus dem Tractatus von Bruder Ludwig gehört hatte und sich nun dessen Reaktion vorstellte, und andererseits über diese Chuzpe Ravels, einen Versehrten, womöglich Traumatisierten so zurechtzuweisen. Aber vielleicht hat ja Momus im Falle Paul Wittgensteins nur das aufrichtige Mitleid desjenigen, dem auch ein Teil des Körpers genommen wurde, gepaart mit der kollegialen Erleichterung darüber, dass man ja gewissermaßen auf einem Bein auch noch stehen könne.
Ah, das gute Gespräch am Abend. Ich genieße das, wage indes nicht, mein Lieblingsbuch von Thomas Bernhard anzusprechen, «Wittgensteins Neffe», wie soll ich mit meinem rudimentären Englisch auch erklären, was mich an dem Buch so
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