Rumgurken: Reisen ohne Plan, aber mit Ziel (German Edition)
na ja, du kannst ja nichts dafür, bilde ich mir ein sie murmeln zu hören, für den Schuhputzer bist du vielleicht nur Luft, und wir sind ihm noch nicht dreckig genug.
Am nächsten Tag ist ein Busausflug nach Piqua geplant (aber nicht das Piqua, in dem Buster Keaton geboren wurde, das steht in Kansas), ich kann die anderen, und insbesondere Dieter davon überzeugen, und Dieter ist das Alphatier, dem alle folgen. Der Busfahrer heißt Jago, ein Melancholiker, der sehr gut Deutsch spricht, die Galerie hat Bus und Fahrer organisiert. In dem eiernden Kassettenrekorder seines dreckigen Fort Transits singt Rudolf Schock das Ave Maria, bis Bandsalat dem elenden Gejaule ein Ende bereitet. Es ist eine schöne Fahrt, abgeerntete staubige Felder, Monsantomais vermutlich, überall schwelt die Steppenglut. Nach Piqua muss ich, so halte ich einen kleinen Vortrag von der Hinterbank meinen Mitreisenden nach vorne, aus mehrerlei Gründen. Natürlich wegen der Mills Brothers, sie kommen aus dem kleinen Ort und gelten als Erfinder, oder genauer als Vorläufer des Doo Wops, als das Genre noch gar nicht so hieß, Swing oder Barbershop wurde das damals genannt, mehrstimmiger Gesang, sparsam instrumentalisiert, so um 1930, in Zeiten großer Depression spendeten sie Trost und Erbauung mit Titeln wie «Gloria» («Gloria, it’s not Marie, it’s Gloria, it’s not Cherie, it’s Gloria»). Ferner gilt oder galt Piqua immer als die Unterhosenhauptstadt der Welt. Nirgendwo sonst gibt es, sagt man zumindest, so viele Kurzwarenfabriken auf so engem Raum. Des Weiteren haben sie ein Atomkraftwerk in Piqua, und das steht mitten in der Stadt, das aber bereits nach drei Jahren wieder vom Netz ging, es arbeitete nur von 1963 bis 1966, war eines der ersten Kernkraftwerke mit einem kommunalen Eigentümer und Betreiber weltweit und wurde unter Vertrag von der Stadt Piqua betrieben. Nach der Schließung wurde die Anlage für die Nutzung als Büros, Geschäfte und Lagerräume verpachtet, und wenn wir Glück haben, werden dort auch Schlüpfer verkauft (Atomunterhosen), und wenn wir noch mehr Glück haben, wird alles berieselt von den Mills Brothers («Wasn’t Madeline your first love? It was just hello-goodbye. Wasn’t Caroline your last love? It’s a shame you made her cry»), und während ich meinen Mitreisenden all diese Koinzidenzen des Glücks ausmale, belfert mich Dieter vom Beifahrersitz aus in einer ungewohnten Schärfe an. Was ich denn da faselte, wir fahren nach Gori, ins Stalinmuseum, ich solle doch endlich mal die Klappe halten mit meinem blöden Cleveland, seine Golfschläger kämen zwar aus Cleveland, das seien die besten, aber wir seien jetzt hier in GEORGIEN, ob ich das immer noch nicht begriffen habe, Tiflis/Georgien, jetzt gleich Gori, schau, da draußen die riesige ossetische Flüchtlingsbarackensiedlung, was ich denn die ganze Zeit hier für einen Unsinn erzählte.
Für den Rest des Tages schweige ich. Ich geh auch nicht mit ins Museum des Massenmörders, draußen summe ich das herzknitternde Lied, oder es summt mich («What a fool you are. You gave your heart to Gloria. You’re not so smart ’cause Gloria. Is not in love with you»).
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Häuser ohne Augen
Ich bin der zerquetschte Feuerwehrmann mit zerbrochenem Brustbein. Übel regt mich an und Verbesserung von Übel regt mich an. Allem, was gewachsen ist, feuchte ich die Wurzeln.
Albert Oehlen
Für die einen ist es der Orientexpress, für die anderen die Transsibirische Eisenbahn, für Dritte vielleicht der «Last Train to Trancentral» und für Christian Anders der Zug nach Nirgendwo: magische Strecken, die ihren Zauber nicht unbedingt im Ankommen entfalten, sondern irgendwo auf der Strecke zwischen zwei Punkten, die immer kleiner werden, je konstanter und monotoner der Zustand, der Stillstand in der Bewegung wird. Für mich war so etwas immer der Ostende-Wien-Express. Er fuhr seit 1894, aber hundert Jahre später wurde die Verbindung bedauerlicherweise eingestellt, das heißt, man kann sie jetzt nur noch mit unterbrechendem Umsteigen befahren (Köln/Brüssel), aber der Gedanke an die alte Gesamtstrecke schmust mein Gehirn nach wie vor. 1901 fuhr der Zug mit versagender Bremse in den Frankfurter Hauptbahnhof ein und kam mitten im Restaurant, inmitten der zum Frühstück gedeckten Tische zu stehen. Niemand wurde verletzt, da das Unglück morgens um fünf passierte. Ein Teil der Fahrgäste, auch ich (tja, so alt bin ich schon), hatte das Ereignis
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