Rumgurken: Reisen ohne Plan, aber mit Ziel (German Edition)
überhaupt nicht bemerkt, so sehr lullte die Strecke die Passagiere ein und schützte sie vor allen Widrigkeiten, wie ein eiserner Schlafsack.
Ich fuhr sie oft, die Fahrt begann um 21 Uhr und endete um neun am nächsten Morgen. Ich nahm selten Gepäck mit, sprang spontan in den stets leeren Zug, immer schnabulierte ich zum Frühstück in Ostende einen großen Topf Miesmuscheln, Jodbomben, es war, als treibe mich eine in mir glosende Schilddrüsenunterfunktion hin zur fernen Quelle. Manchmal fuhr ich schon in der folgenden Nacht wieder zurück. Einmal schmiss ich in einem Akt von Selbstjustiz einem McDonald’s-Filialleiter aus Passau, der einer Frau im Liegewagen an die Wäsche ging, seine nagelneuen, schnieken Cowboystiefel aus dem Fenster, ich sah ihn morgens um fünf im harschen Winter 1985 durch die Eisblumen des Fensters fluchend in weißen Socken den Mainzer Bahnsteig entlanghüpfen. Ein anderes Mal wohnte ich im Ostende-Wien-Express einer rothaarigen Schwangeren bei, sie wollte es wissen, und wir trieben es nach allen Regeln der Kunst. Mit uns im Sechserabteil, wir hatten die Sitze ausgezogen, ein Koreaner, der schlief oder vorgab, es zu tun, doch er musste etwas mitbekommen haben, ich weiß nicht mehr, wie sie hieß, eine füllige Belgierin mit borstigen Beinen, die exakt aussah wie Lesley Gore, meine Lieblingslesbe, später entdeckte ich ein schwarz-weißes Passfoto von ihr in meiner Hosentasche, auf das sie rückseitig mit Bleistift «Wij waren hier nooit» (Wir waren niemals hier) geschrieben hatte, sie musste es mir irgendwann zur Erinnerung dort hinterlassen haben, so wie wir dem Koreaner vermutlich erotischen Nährstoff der Phantasie für Jahre hinterließen. Von Ostende fuhr sie mit der Küstenstraßenbahn (Kusttram) weiter nach Knokke zu ihrem Mann, das Kind muss jetzt um die zwanzig sein. Ich torkelte erschöpft, benommen und verwirrt ins Hotel, in das immer gleiche, Hotel du Parc, da wo der Lesbenvampirfilm «Le Rouge aux lèvres» (dt. «Blutige Lippen») von Harry Kümel aus dem Jahr 1971 spielt. Ich versuchte den Schlaf, den ich in der Nacht nicht bekam, nachzuholen, es gelang mir aber nicht, die Nacht dröhnte in mir nach, die Erinnerung wie eine große kybernetische Turbine, meine Außenhülle eine einzige hochempfindliche, entzündete Tastnervenzelle.
Das Geviert um das Hotel du Parc am Marie José Plein ist dann auch die schönste Ecke Ostendes, das herrlich brutalistische, von Le Corbusier inspirierte Postgebäude von Gaston Eysselinck, und dann, zum Wasser hin, natürlich der Kursaal, alles viel zu überdimensioniert für das kleine Städtchen, weswegen beiden Gebäuden immer auch eine realistische Inszenierung beiseitegestellt wird: Vor der Post, auf dem Grünstreifen in der Mitte der Leopold-II-Laan sind es die sich nach Einbruch der Dunkelheit versammelnden Rudel von ratlosen Kaninchen, sonder Zahl, und um den Kursaal flanieren die Bürger tagein, tagaus mit ihren Minihunden, alle in winzige Hundeanoraks gepackt, zum Teil schieben sie sie aber auch in Kinderwagen vor sich her, so bleibt die große Geste, was sie ist, nur eine Geste ohne Dünkel.
Da man die Strecke nach Ostende jetzt immer unterbrechen muss, steige ich manchmal in Köln aus und manchmal in Brüssel und bleibe dort kurz, gar nicht mal ungern, ich mag beide Städte sehr, auch wenn sie die alte ununterbrochene Fahrt natürlich nicht aufwiegen können. Früher fuhr ich häufiger, jetzt ist es jedes Jahr nur einmal, und zwar im November, meinem Lieblingsmonat, ich versuche die Reise um den Karnevalsanfang herum zu legen. Immer ist dann auf der Strecke auch ein prächtiges Konzert, eins, für das auszusteigen sich lohnt, immer im E-Werk, einmal war es Orchestral Manœuvres in the Dark, am 11.11., das Jahr drauf am 12.11., Erasure, schwule Entfesseltheit, Vince Clarke, ihr musikalischer Direktor, hat mir mal eine Zigarette geschenkt, eine Kent. Er hat, wie ich, in seiner Jugend in einer Joghurtfabrik gearbeitet, und er ist das einzige Idol, bei dem ich nicht nur die Frisur zu kopieren versuchte, nein, ich erkor mir auch meine Freundin nach dem Bauplan der Sängerin seines damaligen Kurzprojekts Yazoo, Alison Moyet, was ich Martha natürlich nicht gestehen durfte («Kein Problem, dass du deine Tonnengestalt in einen Kaftan hüllst, macht doch Alison auch»). Am 13.11.2012 erwarte ich im E-Werk ein Konzert von Vince Clarke und Martin Gore, dann wäre die Trias des Glücks komplett. 30 Jahre haben sie sich nicht gesprochen, die
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