Rumgurken: Reisen ohne Plan, aber mit Ziel (German Edition)
Feier des Endes des Ersten Weltkriegs als «Bier des Sieges» gebraut, kurz danach jedoch, weil es so stark ist, benannten sie es um ins attraktivere «Teufel», ich brauche das jetzt. Als das Mädchen das Bier in der schönen Michelinmännchenflasche bringt, behaupte ich, ich hätte das Foto eben auf der Vlaanderenstraat gefunden, und frage sie (woher kommt der Mut so plötzlich?), ob ich sie nach Dienstende treffen könne. Sie sagt ja, ich soll sie hier um sechs abholen, sie heißt Vanessa. Ich stürze das ölige Bier herunter und will mich anderswo stärken, will auch nicht mehr Muscheln, ich kann doch Vanessa nicht nachher mit einem Jodfeuerkopf abholen, gehe also in die Taverne Koekoek, eine widerwärtige Brathuhnstube (Kip med Brod, € 5,80), man muss mit den Fingern essen. Das Brot, das wie ein Lappen ist, dient dazu, die fettigen Finger abzuwischen. Auf die Frage nach Besteck lacht der Kellner nur abfällig und geht kommentarlos. Weil das Mahl so billig ist, muss man hier wohl an Antworten wie an Messern und Gabeln sparen. Das Huhn ist glühend heiß, ich verbrenne mir die Fingerkuppen, dafür dann aber nicht die Zunge, auch gut, die könnte man später ja vielleicht noch brauchen.
Pünktlich stehe ich vor dem Tearoom. Vanessa kommt, ich schäme mich sie anzusehen. Ihr Anblick macht mich ganz betrübt, ich komme nicht drauf, warum. Vorausgaloppierende Schuld? Aber was ist denn meine Schuld? Ich bin jemand, der sich pausenlos schuldig fühlt und schämt, da scheint noch ein schwacher, deutscher Ofen in mir zu rußen. Wir gehen durch die grauenvolle Fußgängerstraße, die auch noch mit Musik berieselt wird wie in Japan die Shopping-Malls, und retten uns in die Brasserie du Parc wie vor einem feindlichen Regen. Sie bestellt einen Tee, ich ein Leffe blond. Ich frage sie, wie es ihrer Mutter gehe, und bemerke zu spät, dass die Frage falsch ist. Warum soll ich mich nur aufgrund eines gefundenen Fotos für ihre Familienverhältnisse interessieren? Aber sie ignoriert meine Zweifel und erzählt ihre Geschichte. Sie ist in Knokke geboren, ihr Vater habe die kleine Familie schon früh verlassen, da war sie zwei Jahre alt, er lebt jetzt in Venezuela, ihre Mutter habe noch einmal geheiratet, einen Schlagersänger, na ja, eher Alleinunterhalter, er nennt sich Eddy Storm, tingelt mit seinem Programm «Ask me something I can play» durch flämische Kaschemmen und spielt Musik auf Zuruf. Vanessa ist ihr Stiefvater peinlich (er tritt sogar heute in Ostende auf, in einem kleinen Lokal namens Kombuis, aber sie will nicht hingehen, auf gar keinen Fall), und dann schaut sie mich an, sie sieht jetzt aus wie ein Grashüpfer, ratlos, wohin er jetzt springen soll. Mir scheint, sie fragt sich selbst in diesem Moment, warum sie das alles ausgerechnet mir erzählt, wer bin ich denn? Ja, wer bin ich? Und vor allem, wer bin ich hier an der Küste Belgiens? Ich erzähle ein bisschen von mir und von meiner Liebe zum Land, also, Liebe ist es ja nicht direkt, es ist Sympathie für das, was in uns allen rotiert, dieser hierzulande ewig schlingernde Kurs der Kompromisse, nichts wird fertig, man kommt nie an, Ostende ist ja nicht das Ende, obwohl es sich furchtbar anstrengt, es zu sein, diese unerträgliche, aber auch unerträglich süße Schicksalsergebenheit.
Sie weint, ich nehme sie in den Arm, in meine petrochemischen Arme , fällt mir ein, nur so was kann mir einfallen, ich habe es verlernt, ernsthaft zu sein. Mein Trostspender ist verdorrt, wo und seit wann eigentlich? Vielleicht gerade hier und gerade eben, diese Zeile aus einem Laurie-Anderson-Lied, «So hold me, Mom, in your long arms. So hold me, Mom, in your long arms. In your automatic arms.Your electronic arms. In your arms. So hold me, Mom, in your long arms. Your petrochemical arms». Aber ich bin nicht ihre Mutter, ich bin nicht einmal ihr Vater, knapp daneben, ich bin auch nicht der Staat, den Laurie besingt, ich habe überhaupt keine Rechte, ich habe das Recht ihr zuzuhören, mehr aber auch nicht. Flüsternd fragt sie mich, ob ich ihr einen Gefallen tun könne, ob ich jetzt mit an den Strand käme. Ich sage, kein Problem, gerne, gehen wir. Unten stürmt es, es ist sehr kalt, der Nebel ist endlich weg, man sieht die Sterne, ein paar, nicht alle. Wir gehen zuerst durch den weichen Sand, man versinkt fast bis zu den Knien. Überall an der Albertpromenade stehen Schilder und warnen, dass der Sand gefährlich sei, Treibsand, sie bauen gerade eine neuen Strand, er muss wohl erst
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