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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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Nahmen sie es nicht schon ein wenig zu selbstverständlich hin? War ihnen klar, wie nah das Alte noch war und wie gefährlich, würden sie standhalten können und nicht nur gerade das, sondern vorangehen und bestehen in diesem Kampf, der an Unerbittlichkeit den voraufgegangenen um nichts nachstehen würde? Denn wenn sie zu nachgiebig wären, zu arglos oder zu leichtfertig, es könnte eine Rechnung präsentiert werden, die wieder keiner würde bezahlen wollen und diesmal vielleicht auch nicht mehr können, wie die Welt nun beschaffen war. Er sah sie sitzen, die Unterlippe kaum merklich vorgestützt und die erhobenen Augenbrauen nicht seinetwegen erhoben, sondern weil sie nachdachte über etwas, das nur beiläufig mit der Antwort zu tun haben würde, die er allenfalls geben konnte, da dachte er: aber wie nun umgekehrt? Fischers Tochter, wenn für sie die gleichen Wirklichkeiten doch nicht die gleichen waren, und wenn das ein Nachteil war nach der Logik der Älteren, was war es nach der Logik des Lebens? Er sah, daß eher sie sich an seine Stelle setzen konnte als er an ihre: diese Zeit nur sehen können mit den Augen dieser Zeit, das schafft andere Bilder – er hatte das nie bedacht. Da ging sie einher unter den Leuten, konnte umgehen mit dem Mechanismus einer Riesenmaschine, der sich ihr fügte; er hatte so ein Ding einmal gesehen; und sie wußte, daß etwas tatsächlich entstand unter ihren Händen und Wert bekam, und wußte auf ziemlich andere Weise als einer, der Politik macht von Berufs wegen, um die Eigentümlichkeit des Lebens, wie es empfunden wird von denen, die um sie waren alltäglich.
    Er sagte: »Es ist wahr, wir sind eine Antwort schuldig, und es ist wohl so, daß eine beharrlich übersehene Frage erheblicher |556| um sich greift als drei kompakte Wahrheiten. Keine Antwort ist auch eine, heißt es.«
    »Ja«, sagte sie.
    Und stand nun auf, den Kaffee anzusetzen, wollte auch wissen, wo der Fahrer wäre, eine weitere Antwort, die ihr nicht gefiel, es war zu sehen.
    Als sie gegangen war, sah Zacharias ihren Vater lächeln. Und wieder beschlich ihn dieses Gefühl, ein Fremder zu sein an einem wohnlichen Ort. Sie tranken Hermann Fischers Klaren, der war schon ein wenig warm geworden in den Gläsern, sie aßen Brot nach und saßen an Hermann Fischers rundem Tisch, Zacharias aber dachte: Man muß wohl so leben wie die meisten von ihnen, um sie wirklich zu verstehen. Seine Arbeit tun und einen Ort haben, an dem man erwartet wird von einem nahen Menschen, wissen, daß jemand da ist. Jeder hat Räume, die er nicht bewohnt, solange kein anderer da ist. Denn es muß einer heimkehren können zu sich selbst, das ist: zu den Seinen. Einer, der nie seine Kinder großgezogen hat und sich gesorgt, der nie einen Platz bewohnbar gemacht hat durch die vertrauten Gewohnheiten des Miteinander und der gemeinsamen Erinnerung, er ist ein Fremder geblieben sich selbst. Und ist ein anderer bei den gleichen Dingen.
    Hänschen kam, und Ruth brachte den Kaffee. Hermann Fischer trank ihn aus seinem großen Kaffeetopf. Sie rauchten, sie sprachen miteinander, sie schwiegen. Und er sah ihn sitzen, Hermann Fischer, die breiten Hände auf die Armlehnen gestützt, er rauchte bedächtig und mit langen Pausen aus seiner kurzen Pfeife und sah seiner Tochter zu, und Zacharias dachte, wie gut es wäre, wenn auch er einen Ort hätte, wo er so dasitzen könnte, die Hände so hinlegen könnte und seiner Tochter zusehen nach der Arbeit. Ja, dachte er, es ist das wirklichere Leben. Aber war es denn wirklich schon zu spät?

|557| XIX. Kapitel
    Der Sommer wollte nicht anfangen. Der Mai war kühl und feucht gewesen, kühl und feucht begann der Juni. Irgendwann ein paar wärmere Tage, aber das lag schon lang zurück; Regenwolken kamen über das Gebirge, Nebel lagen in den Tälern, nur langsam vertrieb sie der Wind. Gegen Mittag, als Christian Kleinschmidt in Bermsthal ankam, regnete ein kalter dünner Regen herab, der Bahnsteig fröstelte, es war alles so grau. Als ob der Himmel etwas verbergen wollte.
    Und Christian auf diesem langen Bahnsteig, Christian in diesem zugigen Fußgängertunnel, Christian mit dem Köfferchen, er ging hinter wenigen Leuten her, als letzter, tauchte auf drüben, Sperre, Fahrpläne, ein paar Plakate, Regen draußen und an den Fenstern Regen, und die Bahnhofskneipe, leer auch sie oder doch fast leer, und so träge alles – er war aber doch einmal anders hier angekommen.
    Da dröhnte das Tal unter der Sonne, da war der Himmel

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