Rune der Knechtschaft
besserer Schauspieler als sein Bruder, oder er wusste wirklich von nichts.
Der Um-Akr-Priester rührte sich nicht. Der Blick des Hohepriesters wurde stahlhart. Mit dem Zögern sprach der Priester sein eigenes Urteil.
»Trinkt«, sagte der Hohepriester, und Arekh begriff erst jetzt, wieso dieser Mann gefürchtet war. »Unter dem Blick Um-Akrs im Herzen des Tempels der Gerechtigkeit: Trinkt.«
Als die Höflinge den Tempel verließen, war der Um-Akr-Priester tot. Er hatte sich unendliche Minuten schreiend in Todesqual gewunden und erbrochen; seine Zunge war steif geworden, und in den Augen, die ihm aus dem Kopf gequollen waren, hatte der Wahnsinn gestanden, bevor er für immer auf den Bodenplatten zusammengebrochen war.
Am Abend fand die letzte rituelle Orgie zu Ehren Verellas statt. Trotz der Ereignisse des Tages wurde die Zeremonie nicht abgesagt. Vielleicht sahen die Adligen darin gerade jetzt eine willkommene Gelegenheit zur Beruhigung unter dem Blick der wohltätigsten und sanftesten aller Göttinnen.
Die Abenddämmerung senkte sich herab, und die ersten Sterne erschienen, während die Höflinge in die Bäder kamen, sich in kleinen Grüppchen zusammensetzten und bei heißem Tee oder Wein die Geschehnisse des Nachmittags besprachen. Arekh wartete ein wenig abseits an eine Wand gelehnt. Er hörte sie spekulieren, wie das Gift wohl beschaffen gewesen war und wie es Halios gelungen sein mochte, den Um-Akr-Priester zu bestechen. Mit Geld? Mit Versprechungen? Oder hatte er ihn bedroht?
Ironischerweise wussten alle, dass Halios der Schuldige war, wussten aber ebenso gut, dass es keinen Weg gab, ihn unter Anklage zu stellen. Niemand konnte irgendetwas beweisen, nicht jetzt, da der wichtigste Zeuge tot war.
Die Menge nahm zu, der Rauch wurde dichter, die Gespräche angeregter. Vashni entkleidete sich und stieg als Erste ins Schwimmbecken, wo sie an ihrem Tee nippte. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte es Arekh amüsiert, wie die Männer sie - wortwörtlich - umkreisten und ängstlich zögerten, ihr das geweihte Glas anzubieten, weil sie die Vorstellung abschreckte, sich mit einem Blick eine Abfuhr zu holen.
Aber er stand noch unter einem Schock, der in gewisser Weise sehr heftig gewesen war. Er hatte Angst gehabt, große Angst, und diese Angst hatte seine letzten Verteidigungswälle eingerissen. Er musste immer wieder an den Anblick des Priesters denken, wie er sich auf dem Boden liegend erbrochen und unartikulierte Schreie ausgestoßen
hatte. Marikani hätte beinahe aus dem Kelch getrunken. Er stellte sich vor, wie sie sich unter den Entsetzensschreien der Höflinge auf dem Marmorboden krümmte, während Halios »Dämonin!«, brüllte und der Hohepriester sich entschloss, ihr mit dem geweihten Schwert seines Amtes den Gnadenstoß zu versetzen …
Die Vorstellung war einfach zu furchtbar. Er wandte den Blick ab und sah Marikani zwischen den Säulen näher kommen.
Sie war einfach gekleidet, was in Widerspruch zur Tradition stand, die forderte, dass man sich an einem solchen Abend in seine schönsten Gewänder hüllte. Arekh begriff, dass auch sie noch unter Schock stand. Ihr Gesicht war aschfahl, und ihre Hand zitterte - leichter als die des Priesters vorhin, aber sie zitterte dennoch.
Arekh eilte spontan auf sie zu, machte zwei Schritte und blieb dann stehen. Marikani war unauffällig eingetreten; nur zwei Höflinge hatten sie bisher bemerkt. Sie wechselte einige kurze Worte mit ihnen und suchte mit Blicken nach jemandem …
Suchte nach ihm .
Sie sah ihn, wandte den Blick ab und durchquerte den Raum, in dem sich erste Paare zu bilden begannen. Schließlich ließ sie sich bekleidet in der Nähe derselben Säule wie am Vorabend nieder. Arekh ging zu ihr hinüber und kniete sich neben sie.
»Wie fühlt Ihr Euch?«, fragte er sanft.
Marikani antwortete nur mit einem schwachen Lächeln. Arekh spürte Schmerzen in der Brust. Er hätte gehen sollen, aber er war unfähig dazu, und die Tatsache, dass sie ihn ansah, dass ihre großen, braunen Augen auf seinem Gesicht ruhten, half ihm nicht gerade, sich zum Gehen zu entschließen.
Er hob die Hand - ohne zu wissen, warum, was in ihn gefahren war -, und sie hob ihre; ihre Handflächen berührten sich, dann schlossen sich ihre Finger langsam umeinander. Arekh senkte den Blick; seine Kehle war so zugeschnürt, dass er kaum noch atmen konnte. Dann sah er das Silbertablett neben sich.
Das Glas mit dem Trank hochzuheben und es ihr anzubieten war eine einfache Bewegung und
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