Rune der Knechtschaft
E-Fîr - oder die Kinder aus gutem Hause, die sie erzogen. Für das einfache Volk dienten die Monde lediglich dazu, den Ablauf der Jahreszeiten zu markieren. Ja, der Gott, der E-Fîr ersetzt hatte, trug denselben Namen, und sein Stern funkelte im Osten des Sternzeichens des Rades in leicht bläulichem Weiß … Und am Tag sah man ihn nicht mehr.
Als Kind hatte Arekh sich gefragt, ob der Mond nicht eine Spur der Gegenwart des Gottes zurückbehalten hatte, ob den Gebeten, die man an ihn richtete, nicht noch irgendeine Kraft innewohnte.
Er erinnerte sich nicht mehr, worum er damals gebetet hatte.
Mit Liebe und Glauben beten … das hatte er nicht mehr getan, seit … seit er sich verändert hatte, so einfach war das. War E-Fîr derjenige gewesen, der damals seine Gebete erhört hatte?
Eine Welle der Übelkeit stieg angesichts dieses Gedankens in ihm auf, eine schwarze, unaufhaltsame Welle, und deshalb hob er, um seine Gedanken abzulenken - rasch, bevor die Springflut ihn verschlang -, den Blick zu den Baumkronen. Doch Lionor hatte den Vogel bereits vor ihm gesehen.
»Da!«, sagte sie; in einem Anflug von Panik sprach sie mit einem ausgeprägteren Südakzent als gewöhnlich. »Da, ein Vogel!«
Sie hatten viele Vögel gesehen, aber jetzt verstanden alle, was gemeint war, und wichen zurück. Sie waren nur einen kurzen Moment lang auf der freien Fläche gewesen, und Arekh glaubte nicht, dass der Raubvogel Zeit gehabt hatte, sie zu bemerken - zumindest hoffte er das. Der Vogel unterbrach seinen Flug jedenfalls nicht; sie beobachteten, wie er unter den Wolken weite Kreise zog.
Mîn suchte unter einem großen Baum Schutz, und die anderen schlossen sich ihm an.
Arekh senkte die Stimme, als er sprach. »Wo gehen wir hin?«, fragte er. »Ihr könnt nicht einfach so planlos weiterlaufen.«
Falls Marikani und Lionor bemerkt hatten, dass er innerhalb seiner Rede vom »wir« zum »ihr« gewechselt war, so ließen sie es sich nicht anmerken.
»Wir hatten geplant, an den Bergen entlang nach Süden zu reisen«, erklärte Marikani. »Aber damit rechnen sicher auch die Herren dieses Vogels.«
Lionor nickte. »Es sind bestimmt Patrouillen unterwegs. Sie werden den Wald aufs Genaueste durchkämmen. Zumindest südlich des Nasseri.«
»Ihr sprecht von tausenden Meilen Wald«, erklärte Arekh brüsk. »Keine Armee der Königreiche könnte sie ›aufs Genaueste durchkämmen‹, wie Ihr es ausdrückt …«
Er protestierte aus Prinzip. Manche Gebiete waren gangbarer als andere, und es gab nur wenige Furten im Fluss: Man konnte sie durchaus beobachten. Die beiden Frauen mussten den Nasseri heimlich überqueren, etwa auf einem Floß …
»Aber ich spiele mit dem Gedanken, unsere Pläne zu ändern«, fuhr Marikani mit klarer, ruhiger Stimme fort.
Arekh hatte schon während ihrer Diskussion bemerkt, dass Marikani redegewandt war. Ihre klare Stimme war von trügerischer Sanftheit; sie vermittelte so eine Illusion von Jugendlichkeit, die von ihrem immer ruhigen Tonfall Lügen gestraft wurde, ganz gleich, um welchen Zusammenhang es ging oder wie hitzig die Debatte war. Sie ist Ratssitzungen, endlose Treffen und Diplomatie gewohnt , dachte Arekh erneut.
Jung - ja, sie war sehr jung für eine solche Verantwortung. Er erinnerte sich, dass es eine Seuche gegeben hatte, eine gelbe Pest, die sich von den Häfen aus die Flüsse hinauf ausgebreitet und die Einwohner der kleinen Küstenstädte dezimiert hatte. Harabec grenzte nicht ans Meer; dennoch war ein Teil des Landes von der Pest erfasst worden, und viele Mitglieder der königlichen Familie waren gestorben. Marikani musste damals ihr Erbe angetreten haben.
Die junge Frau erläuterte gerade irgendetwas; Arekh wurde sich bewusst, dass er den Gesprächsfaden verloren hatte.
»Verzeihung?«, murmelte er, um zu zeigen, dass er nicht zugehört hatte. »Ich wäre Euch sehr verbunden …«
Lionor warf ihm einen scharfen Blick zu. Seine Ausdrucksweise verriet eine gewisse Erziehung und eine Herkunft von Rang, ebenso wie der eisige, aber förmliche Ton, in dem er gesprochen hatte.
Arekh sprach nicht wie Mîn; sie verfügten weder über das gleiche Vokabular noch über die gleiche Welterfahrung … Das hatten die beiden Frauen sicher sehr schnell bemerkt. Genau, wie Arekh seinerseits ihren Akzent bemerkt hatte.
»Wir werden versuchen müssen, über den Bergkamm zu gelangen«, wiederholte Marikani. »Die Berge überqueren, ganz gleich, wo wir dann ankommen. Jede Wildnis wird gastlicher sein als
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