Rune der Knechtschaft
die Dörfer des Emirs … Ich weiß«, fuhr sie fort, bevor Arekh auch nur den Mund öffnen konnte, »unsere Überlebenschancen sind nicht groß. Aber … es ist besser so.«
Besser. Für Harabec war es besser, wenn sie starb, als wenn sie gefangen genommen wurde, das hatte sie ihm schon am Strand erklärt.
»Warum seht Ihr mich so an?«, fragte Arekh nach einigen Sekunden; die beiden Frauen musterten ihn erwartungsvoll. »Wollt Ihr etwa, dass ich Euch hintrage?«
»Um die Wahrheit zu sagen«, erklärte Marikani, »habe ich gehofft, dass Ihr etwas Ahnung von Geografie habt. Ich kenne die Gegend nicht.«
»Was hättet Ihr denn ohne mich getan, um zu überleben, Tochter des Arrethas?«
»Vielleicht hätten wir gar nicht überlebt. Was Euch unrecht und mir recht gibt, was unsere Diskussion von vorhin betrifft«, sagte Marikani und verneigte sich mit einem Lächeln auf den Lippen.
Arekh musterte sie stumm und verspürte den unwiderstehlichen
Drang, Mîn den Proviantsack aus der Hand zu reißen und aufzubrechen, einfach geradeaus, während er die anderen zurückließ.
Er warf einen Blick zum Himmel. Der Vogel war verschwunden. Das war ein gutes Zeichen. Der letzte Vogel, der sie erspäht hatte, hatte sich sofort auf sie gestürzt.
»Er ist weg«, bestätigte Lionor.
»Der einzige Pass, den ich kenne, liegt südlich des Aschegipfels«, sagte Arekh kühl. »Wir sollten den Gipfel ohne Schwierigkeiten ausmachen können, seine Form ist sehr charakteristisch. Vielleicht gibt es andere, näher gelegene Übergänge. Zögert nicht, sie zu suchen, wenn Ihr hofft, etwas Besseres zu finden.«
Die drei folgenden Tage waren trist und feucht. Dennoch war der Wald rings um sie schön. Das schwache Sonnenlicht züngelte am Goldbraun der toten Blätter; zarter Nieselregen ließ aus dem Boden den Geruch von Humus, Tieren, Pflanzen, Holz und Moos aufsteigen. Es war kühl, aber nicht so unangenehm, dass man wirklich litt. Arekh zog es vor, sich nicht auszumalen, was sie durchmachen würden, wenn sie erst in höhere Regionen gelangt waren.
Bald stellte sich die Frage nach Nahrungsmitteln. Die Fleischreser ven waren schon am zweiten Tag aufgebraucht, so auch die Haferfladen. Der Wein hatte nur noch für eine weitere Mahlzeit ausgereicht. Es blieb noch etwas altbackenes Brot, aber nicht genug, um den Pass zu erreichen.
Sie mussten einen langen Zwischenhalt einlegen, um Fallen aufzustellen; Mîn und Arekh vereinten ihre Talente, taten ihr Bestes und fingen einige Nagetiere, während die Frauen Maranien sammelten, trockene und kaum genießbare Früchte, die einige Gemeinsamkeiten mit Kastanien
aufwiesen. Mîn musste ihnen beibringen, wie man daraus Mehl und daraus wiederum eine Brühe machen konnte.
Bis sie sich entschließen konnten, ein Feuer zu entzünden, gab es eine neuerliche endlose Diskussion. Durften sie ein solches Risiko eingehen? Mîn hatte ihnen schließlich die Entscheidung abgenommen, als er stolz eine Sneghj angeschleppt hatte, eine große Schlange, die sich in einer seiner Fallen erdrosselt hatte. Er hatte erläutert, dass sich ihr Fleisch gegart in Scheiben schneiden ließ und dann wochenlang haltbar war. Das Reptil wog gut dreißig Pfund.
Der Gesichtsausdruck der beiden Frauen angesichts des Fleisches der weißlichen Schlange hätte Arekh unter anderen Umständen zum Lachen gebracht. Sie hatten es allerdings mutig probiert und waren dann stoischer als er damit umgegangen; er hatte sich nämlich nach dem ersten Bissen nicht davon abhalten können, einen Schwall von Flüchen auszustoßen.
Nachdem sie so zwei Tage verloren und ihren Feinden jede Gelegenheit, sie einzuholen, geboten hatten, waren sie wieder aufgebrochen.
Der Übergang in die Berge erfolgte abrupter, als sie erwartet hatten. Am Morgen schritten sie noch einen sanften Abhang hinauf, unter dichten Zweigen, die ihnen den Blick auf den Aschegipfel nahmen, so dass Mîn auf Bäume klettern musste, damit sie weiter auf ihr Ziel zuhalten konnten … Am Nachmittag waren einzelne Kiefern an die Stelle des Waldes getreten; Felsbrocken machten den Aufstieg schwierig.
Eine weitere Nacht, ein Wandermorgen, an dem das letzte altbackene Brot verschwand - dann senkte sich Kälte auf sie wie der zornige Blick der Eisgeister. Diese waren die Kinder Murufers und seiner Zwillingsschwester, der
Jägerin Lena. Die Kinder der Kälte hausten in den Nordgebieten und ließen die Ozeane durch die Berührung ihrer Krallen gefrieren. Man sagte, dass das Türkisvolk einst
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