Rune
auch wirklich nicht wollte, ich wollte einzig meine Ruhe. »Ich will nicht unhöflich sein«, sagte ich. »Und es tut mir leid, wenn ich so wirke. Aber die Sache mit Rick ist Vergangenheit. Ich begreife nicht, was passiert ist, und wenn ich es einmal kann, will ich es einfach hinter mir lassen. Meine Wunden lecken und mich verkriechen.«
Shelly nickte, blieb aber standhaft. Sie hatte ihre Hände in den Hintertaschen ihrer Hose vergraben und sah mich geradewegs an, bis ich mich fast wieder dem Auto zuwandte. Sie hatte einen sehr eindringlichen Blick. Schließlich schenkte sie mir ein schiefes Lächeln, das sowohl ironisch als auch traurig wirkte.
»Ihr Jungs wart nicht die ersten dort oben«, sagte sie.
»Nicht die ersten in welcher Hinsicht?«
»Die auf etwas stießen, das sich nicht leicht verstehen läßt.«
»Das habe ich auch schon gehört«, sagte ich und erinnerte mich an den Tag, als White Trash Joe mit mir auf der staubigen Straße spazierengegangen war. »Ich weiß, daß die Bauarbeiter dort oben eine schwere Zeit hatten.«
Sie nickte und schenkte mir wieder dieses eiskalte Lächeln. »Davon rede ich gar nicht.«
Und dieses Mal erwiderte ich gar nichts. Ich will noch nicht einmal hören, was sie zu sagen hat. Ich will es einfach nur hinter mir lassen.
»Schau, wenn es irgend etwas an der Sache ändert«, sagte sie, »werde ich kein Wort darüber schreiben, nicht über dich, nicht über deine Freunde. Es ist mir scheißegal, ob ich darüber eine Story schreibe oder nicht.«
Nichts an ihr schien auf eine Lüge hinzudeuten. Sie war zu bestimmt, zu ernsthaft. Und vielleicht tief im Innern traurig. Oder ängstlich. Gefühle, die mir in letzter Zeit alles andere als unbekannt waren.
»Warum interessierst du dich dann für die Story?« fragte ich schließlich. »Was bedeutet sie dir?«
»Zählt das für dich?«
»Wenn du möchtest, daß ich die Nacht, in der Rick verschwunden ist, wieder durchlebe, dann schon.«
Shelly grinste merkwürdig. Dann verschwand das Grinsen, und sie war wieder ganz Geschäftsfrau. »Das ist wohl nur gerecht. Also kommen wir ins Geschäft? Wir tauschen Geschichten aus?«
Wachsam, das war sie. Sie gab nichts preis, wenn sie nicht unbedingt mußte. Und mir ging es genauso. Ich hatte ehrlich gesagt wenig Lust, die ganze Sache wieder aufzurollen, nur damit sie sich amüsieren oder betroffen fühlen konnte. Doch ebensowenig hatte ich Lust, diese Stadt zu verlassen, ohne zu wissen, was mit Rick geschehen war. Er verdiente etwas Besseres. Als Freund, als jemand, den ich bewunderte. Als jemand, den ich wie einen Bruder liebte.
Wenn ich konnte, dann wollte ich es wissen. Alles über ihn, über das Wikingergesicht, das ich bei Tri-Lakes gesehen hatte. Irgendwann würde es mich innerlich zerreißen, wenn ich es nicht herausfand. Doch im Augenblick schien es, als hätte ich nicht sonderlich viel Zeit dafür.
»Ja, wir tauschen«, sagte ich, und kein Ausdruck von Befriedigung oder Siegesbewußtsein trat auf ihr Gesicht. »Aber im Moment habe ich ziemlich viel zu tun. Ich fahre morgen früh aufs College.«
»Das geht in Ordnung«, sagte sie und lächelte mich zum ersten Mal ehrlich an. »Wann immer du mal wieder hier bist. Ich kann warten.«
Ich seufzte und lehnte mich noch schwerer auf den Wagen. Auch ihr tut es weh, dachte ich. Sie macht das nicht aus Spaß an der Freude. Was uns, wie mir mit einem Mal bewußt wurde, zu ungleichen Verbündeten machte.
»Wie wäre es mit dem Tag der Arbeit, am Wochenende, Samstag?«
Shelly nickte ohne Zögern. Sie zog ein kleines Notizbuch aus ihrer Hosentasche und einen Stift aus ihrem Hemd, kritzelte etwas auf die erste Seite, riß sie dann heraus und überreichte sie mir. »Wenn ich an dem Samstag nicht arbeiten muß, hier wohne ich. Da steht auch meine Nummer. Ruf zuerst an. In Ordnung?«
Ich nickte müde und fragte mich im Hinterkopf, wie ihr Pfad sich wohl mit Tri-Lakes gekreuzt hatte. Wir verabschiedeten uns ziemlich mechanisch, und sie ging zu ihrem Wagen. Ich sah zu und fühlte mich, als würde ich mich nie von Tri-Lakes lösen können. Als würde es immer ein Teil von mir sein. Als wäre es immer schon ein Teil von mir gewesen.
Am nächsten Morgen herrschten eine brennend heiße Sonne und hohe Luftfeuchtigkeit. Wunderbare Bedingungen für eine vierstündige Fahrt ohne Klimaanlage. Dad ging erst später zur Arbeit, um sich von mir zu verabschieden. Er, Mom und Aaron halfen mir dabei, die letzten Überbleibsel ins Auto zu tragen, und
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